| # taz.de -- Erinnerung an Christian Semler: Wir Paradiesvögel | |
| > Es waren Exachtundsechziger, die nach Osteuropa reisten und von einer | |
| > Welt ohne Mauer träumten. Ein kleines Loblied auf den politischen Irrtum. | |
| Bild: György Dalos: „Rudi Dutschke wirkte wie ein marxistisch geschulter Pfa… | |
| Im Oktober 1967 führte Hans Magnus Enzensberger für die Zeitschrift | |
| Kursbuch ein Gespräch mit den bekanntesten Gestalten der deutschen | |
| Studentenbewegung. In der Diskussion handelte es sich um nichts weniger als | |
| um die Chancen der Ablösung des spätkapitalistischen Systems und Begründung | |
| eines als rätedemokratisch konzipierten Sozialismus in Westberlin. | |
| Die Teilnehmer machten sich unter anderem darum Sorgen, was im Falle einer | |
| siegreichen Revolution mit den Bürokraten geschehen sollte. Einige | |
| plädierten für deren Umerziehung, die anderen wollten ihnen lieber die | |
| Auswanderung nach Westdeutschland ermöglichen. | |
| Klar war nur, dass diese Kategorie der Menschen für den Zukunftsstaat | |
| völlig überflüssig sei, was Christian Semler in verblüffender Klarheit auf | |
| den Punkt brachte: „Wenn es die Computer nicht gäbe, müssten sie förmlich | |
| erfunden werden für die Räteverfassung. Nur sie ermöglichen es, | |
| Informationen zu sammeln, die die Sachentscheidungen der bisherigen | |
| Bürokratie ersetzen, und zwar dergestalt, dass es überhaupt keine | |
| bürokratische Position mehr gibt, die nicht innerhalb von vierzehn Tagen | |
| umbesetzbar wäre.“ | |
| Zur gleichen Zeit lebte ich in tausend Kilometer Entfernung von der | |
| erträumten Berliner Räterepublik, war Mitglied eines konspirativen | |
| Budapester maoistischen Studentenzirkels, beziehungsweise wurde meine | |
| Mitgliedschaft dort aufgrund einer mangelhaften Selbstkritik soeben | |
| suspendiert. Ich kehrte von der Sitzung in tief depressiver Stimmung | |
| zurück, saß am Abend allein in meinem Zimmer und hörte Radio. | |
| ## Der Computer, das Teufelswerk | |
| Irgendein westlicher Sender, vielleicht die BBC, teilte mit, die im | |
| bolivianischen Camiri von Gewehrsalven durchsiebte Leiche sei als der | |
| ehemalige kubanische Minister für Industrie namens Ernesto Che Guevara, | |
| kurz „Che“ identifiziert worden. Dem gehts jetzt gut, dachte ich. | |
| Hätte mir damals jemand von dem Inhalt des Gesprächs der deutschen | |
| Kommilitonen berichtet, so wäre ich vor allem wegen des Begriffs „Computer“ | |
| in Schwierigkeiten geraten, der zu der Zeit in unserem sozialistischen | |
| Wörterbuch fehlte. Was sei das für ein Teufelswerk, hätte ich gefragt, das | |
| jeden Bürokraten oder gar jedes Zentralkomitee entbehrlich machen würde? | |
| Wir jedenfalls dachten nicht einmal an die Zeiten danach, sondern | |
| konzentrierten unsere geistigen Kräfte auf den Punkt des an einem | |
| Kneipentisch ausgearbeiteten Programms der Gruppe: „Wir machen kein Hehl | |
| daraus, dass unser Ziel der gewaltsame Sturz der sich mit dem Deckmantel | |
| des Revisionismus tarnenden bourgeois-bürokratischen Diktatur ist.“ | |
| Diesen im Sowjetbarock formulierten Satz honorierte der Staat sehr bald mit | |
| Freiheitsentzug, Berufsverbot, teilweise Exil. Das wundervolle Schaltjahr | |
| 1968 erwies sich für unsere Generation als persönlich schicksalhaft. Mit | |
| unserem „chinesischen“ Sonderweg galten wir in János Kádárs Paradies als | |
| Paradiesvögel, und zwar nicht allein wegen der ideologischen Umrahmung | |
| unseres Aufruhrs, sondern auch und vielleicht noch mehr wegen des Anspruchs | |
| der Konfrontation mit einer nuklear abgesicherten Weltordnung. | |
| ## Die idealtypische Strategie: Durchwurschteln | |
| In Ungarn, dessen Geschicke seit Jahrhunderten von fremden Mächten bestimmt | |
| worden waren, beinhalteten selbst die bescheidenen Absichten, im Rahmen des | |
| Systems menschenfreundliche oder nur rationale Besserungen durchzusetzen, | |
| etwas Utopisches, und die idealtypische Privatstrategie sowohl des | |
| Normalbürgers als auch des feinen Intellektuellen hieß Durchwurschteln. | |
| Erst heute wissen wir, dass unsere Wirtschaftsreformer diese wenig | |
| heldenhafte Haltung mit den Herrschenden gemeinsam hatten. | |
| Im Sommer 1968 beteiligte sich Kádár höchst unwillig an der Invasion in | |
| Prag. Laut Geheimprotokollen hat Leonid Breschnew den ungarischen | |
| Parteichef mit folgenden Worten um die Teilnahme an der Aktion ersucht: | |
| „Ich bitte dich, János, schickt nur eine winzige Einheit, und ihr bekommt | |
| alles, was ihr braucht!“ | |
| Was die Budapester Parteiführung tatsächlich bekam, war das Gegenteil | |
| dessen, was Kádár erhofft hatte. Moskau zwang die Ungarn, die begonnene | |
| Wirtschaftsreform wieder abzuwürgen, nachdem zu deren Realisierung bereits | |
| Milliardenkredite aus dem Westen aufgenommen worden waren. So kam es in | |
| Ungarn nicht zu einer Entfaltung der Produktion, sondern nur zu erhöhtem | |
| Konsum. | |
| Dadurch wurde bereits in den frühen siebziger Jahren eine Zeitbombe gelegt, | |
| die später zum Zusammenbruch des Regimes führen sollte. Niemand war bereit, | |
| die Rechnungen für den falschen Wohlstand zu begleichen. Vielleicht hat uns | |
| anno 1967/68 der Kopf bei der Analyse getäuscht, nicht aber unsere Nase, | |
| die die Fäulnis des Bestehenden spüren ließ. | |
| ## „Genosse, bist du ein Genosse?“ | |
| Meine unbekannten Freunde lernte ich erst viel später persönlich kennen. | |
| Als meine Reisefreiheit inzwischen so weit gediehen war, dass ich von | |
| Ostberlin aus über die Vorwahl 0849 in den Westteil der Stadt anrufen | |
| konnte, kam Rudi Dutschke Mitte der siebziger Jahre über die Mauer, wirkte | |
| auf mich wie ein marxistisch geschulter Pfarrer aus den Zeiten des | |
| Deutschen Bauernkriegs, als er mit seinem unverwechselbaren preußischen | |
| Akzent die Frage stellte: „Genosse, bist du ein Genosse?“ Und er schenkte | |
| mir sein Buch, in dem er den gewagten Versuch unternahm, Lenin vom Kopf auf | |
| den Fu zu stellen, mit der Widmung: „Zum Kritisieren geschrieben“. | |
| Später gelangte ich aufgrund der im Schlussakt von Helsinki kodifizierten | |
| menschlichen Erleichterungen auch nach Westberlin, wo ich in den achtziger | |
| Jahren nach und nach die Protagonisten der deutschen Studentenbewegung | |
| kennenlernte. Allerdings musste ich meine Phantasie anstrengen, um in ihnen | |
| die Scharfmacher der Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg oder den | |
| persischen Schah wiederzuerkennen. Das waren besonnene, kritische Geister | |
| und, Gott sei Dank, trotzdem keine seelenlosen Pragmatiker. | |
| Was ich als die größte geistige und moralische Leistung von Leuten wie | |
| Christian Semler betrachte, war die Umschaltung ihrer revolutionären | |
| Energien auf die Solidarität mit den osteuropäischen Bürgerbewegungen. Wie | |
| schwer so etwas sein kann, wissen nur die Menschen, welche die | |
| Transformation ihres Denkens aus eigener Kraft und im inneren Zwist mit dem | |
| eigenen Verratsverdacht durchgemacht haben. | |
| Der lange Marsch von Mao Tse-tung und Ho Chi Minh zu Lech Walesa oder | |
| Václav Havel muss mit enormen persönlichen Kosten verbunden gewesen sein. | |
| Und dass sie dabei zu keinen Politikern im konventionellen Sinne geworden | |
| waren, bezeugten zahlreiche Menschenrechtler der Solidarnosc, der | |
| Initiative für Frieden und Menschenrechte, der Charta 77 oder der | |
| demokratischen Opposition in Ungarn. | |
| ## Sie setzten sich in Dissidentenküchen | |
| Denn uns besuchten damals nicht Minister, Bundestagsabgeordnete oder Führer | |
| der etablierten Parteien, die sich noch am Vorabend des Kollapses der | |
| Ostdiktaturen hauptsächlich um die Entspannungspolitik Sorgen machten, | |
| sondern eben diese ehemaligen Achtundsechziger, die Spinner und Phantasten | |
| von Berlin und Frankfurt, die sich durchaus eine Welt ohne Mauer und | |
| Eisernen Vorhang vorstellen konnten. | |
| Sie kamen, setzten sich in die Dissidentenküchen, als wären sie zu Hause, | |
| plauderten mit uns als ernstzunehmende Partner, schmuggelten über die | |
| bewachten Blockgrenzen unsere Manuskripte und bestätigten damit die | |
| Rechtmäßigkeit der osteuropäischen Hoffnungen. | |
| Was mir an Christian Semler am meisten fehlen wird, ist seine Bereitschaft, | |
| über die Demokratie des Ostens mitzudenken. Ich muss nämlich zugeben, dass | |
| wir, die wir damals in den siebziger/achtziger Jahren mutiger dachten, als | |
| wir redeten, heute mehr als zwanzig Jahre nach der Wende mit lockerer Zunge | |
| sprechen, während es uns an Mut zu denken mangelt. | |
| 18 Apr 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| György Dalos | |
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