# taz.de -- Erinnerungen an Christian Semler: Hauptsache, du wärest noch hier | |
> Wie Christian Semler Pol Pot als „sanft“ bezeichnete, warum er nie | |
> taz-Chef werden wollte und warum er eine Legende in der DDR war. Drei | |
> Weggefährten erinnern sich. | |
Bild: Die Studentenführer Salvatore Gaston, Christian Semler und Rudi Dutschke… | |
Die Zigarette wippte mit | |
von Michael Sontheimer, taz-Mitgründer | |
„Ein freundlicher, sehr sanfter Mann.“ So erinnerte sich Christian Semler | |
an den kambodschanischen Kommunisten Pol Pot. In der Großen Halle des | |
Volkes in Peking hatte Christian den Massenmörder getroffen, unter dessen | |
Regime rund zwei Millionen Menschen zu Tode gekommen waren. Während er von | |
der Begegnung mit Pol Pot erzählte, lachte er immer wieder sein glucksendes | |
Lachen. Die Zigarette, die in seinem Mundwinkel angeklebt zu sein schien, | |
wippte dabei fröhlich auf und ab. | |
Da ich während des Bürgerkriegs nach dem Sturz Pol Pots im Jahr 1979 öfter | |
Kambodscha bereist und ein Buch über das Land geschrieben hatte, war ich in | |
der taz-Redaktion so ziemlich der Einzige, mit dem Christian über die | |
Entwicklung der kambodschanischen Revolution diskutieren konnte. Umgekehrt | |
verfügte Christian, nicht nur was Kambodscha oder Vietnam anging, über ein | |
immenses Wissen. Man konnte mit ihm auch über Details des Warschauer | |
Aufstands sprechen, über biografische Einzelheiten Adolf Hitlers, oder was | |
sonst so interessant ist. | |
Gleichzeitig war mir die Fröhlichkeit, mit der Christian über Pol Pot | |
sprach, etwas ungeheuer und rätselhaft, so rätselhaft wie seine dunkle | |
Dekade als Generalsekretär der KPD-AO. Diese Maoisten waren für uns als | |
Spontis in den 1970er Jahren die Pest. Sie traten mit einem arroganten | |
Führungsanspruch der selbsternannten Avantgarde auf. Sie waren üble | |
Antidemokraten. | |
Anfang der 1990er Jahre erzählte ich meinem Vater, dass ich mit Christian | |
Semler in der taz zusammenarbeite, und mein Vater geriet förmlich ins | |
Schwärmen, als er sich an die Diskussionen mit Semler am Otto-Suhr-Institut | |
der Freien Universität Berlin Ende der 1960er Jahre erinnerte: „Was für ein | |
intelligenter, gebildeter junger Mann das war“, sagte mein Vater, der | |
damals als Professor scharf von Semler attackiert wurde. „Schade, dass er | |
so weit abgedriftet ist.“ | |
Bommi Baumann hatte mir berichtet, wie Christian Semler in der | |
Studentenbewegung im Jahr 1969 der Mann der Militanz gewesen sei, wie er | |
nicht nur eine kommunistische Partei, sondern auch deren „bewaffneten Arm“ | |
aufbauen wollte. | |
Als ich Christian Semler 1992 in der taz kennenlernte, hatte er mit | |
Militanz und Waffen nichts mehr am Hut. Er war ein skeptischer, nicht mehr | |
junger Mann, der viel gesehen und gedacht hatte, der sich geirrt und seine | |
Irrtümer korrigiert hatte, ein milder, solidarischer, sehr sympathischer | |
Mann. | |
In der taz war Christian als kollektives Gedächtnis wichtig, der die | |
Geschichte der westdeutschen und Westberliner Linken kannte wie wenig | |
andere. Er diente dem taz-Kollektiv als inspirierender, nachdenklicher und | |
kluger Gesprächspartner; und als jemand, mit dem man wunderbar lachen | |
konnte. Dann, wie gesagt, wippte immer in seinem Mundwinkel seine Zigarette | |
fröhlich mit. | |
„Ich war mal Chef“ | |
von Bascha Mika, ehemalige taz-Chefredakteurin | |
Manchmal sind es die kleinen Szenen, die einen Menschen liebenswert machen. | |
Und auf ganz besondere Weise gewinnend. | |
Große Konferenz in der taz. Diskutiert wird ein hoch aufgeladenes Thema. | |
Ein Praktikant ist besonders eifrig dabei und versuchte die umfassende | |
politische Einschätzung. Die einen stöhnen, die anderen schauen betreten. | |
Da meldet sich Christian Semler zu Wort. Meldet sich so ordentlich mit | |
erhobener Hand, wie er es immer tut. | |
Und dann erklärt er dem jungen Kollegen die Welt. Legt ihm behutsam die | |
Dinge dar, ohne ihn im geringsten bloßzustellen. Ganz freundlich und | |
zugewandt. Als hätte Christian nicht den geringsten Anlass für Arroganz. | |
Als wäre er nicht einer der brillantesten Köpfe der 68er gewesen und der | |
taz sowieso. Er entlarvt Ideologien, referiert Denksysteme und definiert en | |
passant ein paar entscheidende Begriffe. | |
Selbstverständlich spricht er im Stehen. So lässt es sich besser | |
gestikulieren. Mit umwerfender Präzision, kenntnisreich bis in die letzen | |
Details liefert er die entscheidende Analyse des Themas. Politische Kritik | |
und Vision inbegriffen. Dass er mit einer Absurdität oder Pointe endet, | |
versteht sich von selbst. Er ist doch der Erste, der was zu Lachen haben | |
will. Tatsächlich, er kichert und amüsiert sich köstlich. | |
Darf eine Chefin Lieblingskollegen haben? Egal, Christian war mir einer der | |
Liebsten. Er war für mich das, was die taz an Gutem zu bieten hat. Ein | |
Linker, der seinen Standpunkt ständig überprüft, wägt und reflektiert. Der | |
sich leidenschaftlich einem aufklärerischen Ethos verpflichtet sieht. Der | |
den eigenen politischen Weg kritisch betrachtet und daraus Konsequenzen | |
zieht. Ohne jemals abzuschwören. Christian war bei der taz, weil er nie | |
gezweifelt hat, dass verdammt viel zu tun bleibt angesichts der | |
Verhältnisse. Das zeichnet ihn wohltuend aus gegenüber manchem seiner | |
Mitstreiter der früheren Jahre. | |
Nie gab es jemanden in der Zeitung, der so oft gefragt wurde, ob er nicht | |
Chef werden wolle. Alle in der taz wünschten sich ihn an der Spitze. | |
Ständig wurde er aufs Neue gebeten, gedrängt. Aber er wollte nicht. Mir | |
fiel es schwer, seine Entscheidung zu akzeptieren – bis er mich eines Tages | |
an die siebziger Jahre erinnerte, an seine Zeit bei den Maoisten. „Ich war | |
mal Chef“, sagte er, „es hat mir und anderen nicht gutgetan.“ Damit war f… | |
ihn die Sache erledigt. Und ich war um die Einsicht reicher, dass dieser | |
Christian Semler nicht nur wahnsinnig klug war, sondern auch weise war. | |
Und inzwischen, lieber Christian, wäre es mir auch egal, als was du hier | |
unter uns wärst. Hauptsache, du wärest noch hier. | |
Das Band der Solidarnosc | |
von Wolfgang Templin, DDR-Bürgerrechtler | |
Christian Semler war schon eine Legende, als wir im Frühjahr 1982 das erste | |
Mal zusammentrafen. Die Ausrufung des Kriegszustandes in Polen am 13.12.81 | |
löste auch in der Ostberliner Alternativszene einen Schock und heftige | |
Depressionen aus. Wieder einmal schien alles umsonst zu sein, die Panzer | |
und die Macht triumphierten. Eine Minderheit von uns wollte sich damit | |
nicht zufriedengeben und setzte auf das Überleben der Solidarnosc im | |
Untergrund. | |
Wir konnten allesamt nicht mehr nach Polen und andere Ostblockstaaten | |
reisen. Umso mehr waren wir auf Kontakte und Begegnungen mit | |
Gleichgesinnten angewiesen, die abenteuerlich genug zustande kamen. | |
Christian Semler, seine Frau Ruth Henning, Elisabeth Weber von den Grünen | |
und andere Freundinnen und Freunde aus der Bundesrepublik schafften es | |
mehrfach zu uns nach Ostberlin. Nahezu alle waren Exmaoisten, die einen | |
realistischen Blick auf die diktatorischen Systeme nicht nur des Ostens | |
teilten und sich uns Oppositionellen verbunden fühlten. | |
Christian Semler, der schon 1981 im Kölner Bund-Verlag einen Sammelband mit | |
Analysen und Dokumenten zur Gewerkschaft Solidarnosc herausgab, wurde zu | |
einem der wichtigsten Unterstützer der osteuropäischen Oppositionellen. Er | |
wurde 1984 zum Mitbegründer des Europäischen Netzwerkes für den | |
Ost-West-Dialog. Darin versammelten sich Aktivisten der tschechischen und | |
slowakischen Charta 77, der ungarischen Opposition, der | |
Untergrund-Solidarnosc und anderer mittelosteuropäischer Länder. Auch | |
Jürgen Fuchs und Roland Jahn als aus dem Land gesetzte DDR-Oppositionelle | |
wirkten mit. | |
„Den Helsinki-Prozess mit Leben erfüllen“ hieß für die Beteiligten, ihre | |
Vorstellungen eines künftigen demokratischen, ungeteilten Europas zu | |
entwickeln und den Weg dahin auszumessen. Es hieß, den Protest gegen die | |
Unterdrückung und Inhaftierung von Oppositionellen zu organisieren und | |
praktische Hilfe für die Betroffenen und ihre Familien zu leisten. | |
In der Kölner Wohnung von Christian und Ruth sammelte sich halb Osteuropa. | |
Wenige Stunden nach unserer Überstellung in die Bundesrepublik aus der | |
Haftanstalt Hohenschönhausen im Februar 1988 trafen wir erneut mit | |
Christian und Ruth zusammen. „Macht nichts, eure Arbeit geht jetzt zusammen | |
mit uns hier weiter, was braucht ihr“, waren mit die ersten Worte. | |
Christian verband Hilfsbereitschaft und tiefe Menschlichkeit mit einem | |
unglaublichen Gefühl für Situationskomik. Er konnte so über schwere Momente | |
hinweghelfen. | |
Wenn ihn Heribert Prantl als „Radikaldemokrat im allerbesten Sinne“ | |
beschreibt und Daniel Cohn-Bendit von einem „starken linken Gewissen“ | |
schreibt, so sind das Eigenschaften, welche die Arbeit für die taz prägten | |
und die Auseinandersetzung Christian Semlers mit den mittelosteuropäischen | |
Entwicklungen nach 1989 charakterisieren. Polens Reformweg bleibt einer der | |
zentralen Punkte seiner Aufmerksamkeit. | |
Der deutsch-polnischen Annäherung, Aussöhnung und Partnerschaft fühlte er | |
sich besonders verpflichtet. Es war ein schönes Gefühl, neben Christian | |
stehen zu können, als ihm im September 2010 die Dankesmedaille des | |
Europäischen Zentrums Solidarnosc aus der Hand des polnischen | |
Staatspräsidenten Bronislaw Komorowski verliehen wurde. Wir konnten uns das | |
letzte Mal in Warschau sehen. | |
13 Feb 2013 | |
## AUTOREN | |
M. Sontheimer | |
B. Mika | |
W. Templin | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
Bewegung 2. Juni | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
taz | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
Schwerpunkt Christian Semler | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Letztes Geleit für Bommi Baumann: Immer in der ersten Reihe | |
Der Haschrebell wurde am Freitag beerdigt. Obwohl er nur zwei Jahre lang | |
Aktivist der Bewegung 2. Juni war, wurde er immer darauf reduziert. | |
Erinnerung an Christian Semler: Wir Paradiesvögel | |
Es waren Exachtundsechziger, die nach Osteuropa reisten und von einer Welt | |
ohne Mauer träumten. Ein kleines Loblied auf den politischen Irrtum. | |
Zum Tod von Christian Semler: Abschied von einem Freund | |
In Berlin wurde am Dienstag der taz-Kollege Christian Semler beigesetzt. | |
Weggefährten erinnerten an sein Leben, sein Lachen und seinen Beitrag zur | |
Geschichte. | |
Semler über das Erbe der K-Gruppen: Was von Mao übrig blieb | |
1998 erschien diese viel beachtete Auseinandersetzung mit dem Antiutopismus | |
und Antitotalitarismus nach Ende des chinesischen Experiments. | |
Zum Tod von Christian Semler: „Sein Humor wird uns fehlen“ | |
Wie sich Polen und Deutsche an einen freundlichen Menschen erinnern: Eine | |
Auswahl von Nachrufen zum Tod von Christian Semler. | |
Abschied von Christian Semler: Die Freude, ihn gekannt zu haben | |
Er sprach über bosnische Musik, guckte die Tour de France, schrieb über | |
Kartografie – Christian Semler war ein Schatz an Wissen. | |
Christian Semler in den 1970ern: Ein Schildkrötenleben | |
Wenn Christian Semler sich vor politischen Verpflichtungen verstecken | |
wollte, ging er zu Harun Farocki. Erinnerungen an den Liebhaber von | |
Revolutionskitsch. | |
Zum Tod von Christian Semler: Kein Besuch mehr auf der Insel | |
Christian Semler war ein Vorbild an Gelassenheit und Abgeklärtheit. Nur | |
wenn Stöße auf dem Billardtisch ihr Ziel verfehlten, wurde er ungeduldig. | |
Nachruf auf einen linken Intellektuellen: Für Christian Semler | |
Er war Studentenführer, maoistischer Parteigründer und der Elder Statesman | |
der taz. Und jemand, der die Tugend der Freundlichkeit pflegte. |