| # taz.de -- Christian Semler in den 1970ern: Ein Schildkrötenleben | |
| > Wenn Christian Semler sich vor politischen Verpflichtungen verstecken | |
| > wollte, ging er zu Harun Farocki. Erinnerungen an den Liebhaber von | |
| > Revolutionskitsch. | |
| Bild: Christian Semler auf dem Vietnam-Kongress 1968. | |
| „Wir wollten mit den Toten sprechen“ – das hat im Rückblick mein | |
| Jugendfreund Christian Semler 1999 in der Fernsehserie „Was war links?“ | |
| gesagt. Er sprach von der Organisation, die er mitgegründet hatte, von der | |
| KPD-AO (=Aufbau-Organisation), die sich bald einfach und besonders anmaßend | |
| KPD nannte. | |
| Die Toten, das waren die Kommunisten, die den Kampf mit den Nazis verloren | |
| hatten. Christian hob hervor, dass es sehr viele Schauspieler und Künstler | |
| in den Reihen seiner Partei gegeben hat und wie sehr die Praxis der | |
| gesamten Organisation einer Inszenierung geglichen habe. In dieser | |
| Fernsehsendung erzählte er auch, dass die Funktionäre der KPD sich ein | |
| Monatsgehalt von 800 DM auszahlten, wovon man zu Beginn der siebziger Jahre | |
| leben konnte, wenn auch nur knapp. | |
| Mit zwanzig hatte ich Christian kennengelernt. Von ihm, der damals 26 war, | |
| habe ich viel gelernt: aus der Geschichte der sozialistischen und | |
| kommunistischen Bewegungen, über die Frankfurter Schule, und wie man das | |
| ideologiekritische Instrument nicht auf die Story eines Films, vielmehr auf | |
| das Verfahren seiner Erzählung anwendet. | |
| Und außerdem, dass es hochtrabend ist, eine Nebensächlichkeit im gleichen | |
| Tonfall mitzuteilen wie eine Hauptsache. So Adorno, wenn er erzählt, wie er | |
| als Kind dem Kind Siegfried Kracauer vorgestellt wurde: „Wie von den Eltern | |
| nicht anders erwartet, stellte rasch Vertrautheit sich ein.“ Dass man sich | |
| an eine Fremdsprache nicht ranschmeißen solle, indem man Tonfall und Akzent | |
| allzu vollkommen nachzuahmen suche, dass man vielmehr zu ihr respektvoll | |
| Distanz wahren solle, weshalb auch idiomatische Ausdrücke zu vermeiden | |
| seien. | |
| Wenn sie nicht zu vermeiden seien, so solle man sie sprechend in | |
| Anführungszeichen setzen, um deutlich zu machen, dass man mit ihrem | |
| Gebrauch keine falsche Vertrautheit vormachen wolle. Lernte auch, dass ich | |
| ein neu gelerntes Wort nicht gleich benutzen sollte – sondern zunächst für | |
| eine Weile, wenn immer sich eine Gelegenheit zur Anwendung ergab, in | |
| Gedanken ausprobieren sollte, um etwas vom Bedeutungsfeld aufzuspüren. | |
| Etwas für mich zu behalten fiel mir besonders schwer. | |
| ## Leben, wie auf der Flucht | |
| Als Christian und ich einmal zusammen einen Text von ein paar Seiten Länge | |
| für die Zeitschrift Filmkritik schrieben, darüber, welche Filme die DDR aus | |
| dem Ausland importierte und welche nicht, brauchte das ein paar Tage und | |
| unsere Freundin Christine, die unseren Arbeitsgesprächen kurz zuhörte, | |
| sagte, Christian trüge alles und ich gar nichts bei. Diese Worte prustete | |
| sie heraus, wie sie das oft tat, als könne sie nicht länger an sich halten | |
| und als bräche sich nun eine unangenehme Wahrheit Bahn. | |
| Sie stellte die Frage, warum er sich überhaupt mit mir abgab. Christian | |
| wusste weit besser eine Quelle zu erschließen, einen Gedanken einzuführen | |
| oder wieder aufzugreifen oder das Gemeinte in Worte zu fassen als ich. Wir | |
| hatten dennoch einiges gemeinsam, wenn auch auf sehr verschiedener | |
| Skalenstufe: Wir wussten beide nicht, was wir anfangen sollten, auf was wir | |
| hinarbeiten sollten. Und wir hatten beide bei anderen Erwartungen geweckt, | |
| denen wir nicht zu entsprechen wussten, hatten zu oft gehört, wir wären | |
| kenntnisreich und begabt. | |
| Christian hatte ein Staatsexamen in Jura abgelegt und hatte vor, eine | |
| rechtssoziologische Dissertation zu verfassen – in sehr unbestimmter | |
| Zukunft. Er war in München mit vielen Künstlern und Intellektuellen bekannt | |
| gewesen, deren meiste zur Neuen Linken gehörten oder später gehört haben. | |
| Dann war er aus München fortgezogen, weil seine Freundin ihn verlassen und | |
| einen seiner Freunde geheiratet hatte. In Berlin lebte er zurückgezogen, | |
| wie auf der Flucht. | |
| Immer wieder kam es vor, dass er auf der Straße einen Freund oder eine | |
| Freundin entdeckte und ihm oder ihr auswich. Er wollte vermeiden gefragt zu | |
| werden, warum er sich so lange nicht gemeldet hatte, und konnte doch nicht | |
| sagen, er meide seine Freunde und Bekannten, weil er sich lieber als ein | |
| anderer erfinden wollte. Und die Frage, die er am meisten fürchtete, war | |
| die, was er denn so mache. | |
| ## Verfremdung und Umbenennung | |
| Er hatte sich meiner angenommen und wollte mir ein Vorbild sein. Wenn wir | |
| etwas zusammen produzierten, zwang ihn das, bei der Sache zu bleiben, den | |
| Tag über, was ihm sonst kaum je gelang, und auch am nächsten Tag wieder zur | |
| Verfügung zu stehen. Im Falle anderer Verpflichtungen, journalistischer und | |
| später politischer, versteckte er sich bei uns, bei Ursula und mir, und | |
| ließ sich am Telefon verleugnen. Er hatte mich als denjenigen erwählt, vor | |
| dem er sich nicht versteckte, und ich empfand das als Auszeichnung. | |
| Zusammen haben wir einmal den Film „Der Krieg ist vorbei“ von Resnais nach | |
| einem Stoff von Semprún angesehen, in dem Yves Montand einen Spanier im | |
| französischen Exil spielt, der in der Kommunistischen Partei ein sehr | |
| kleines Gehalt verdient. Das hatte Christian sehr gefallen. Der Funktionär | |
| in seiner Melancholie glich einem Privatdetektiv im amerikanischen Film der | |
| 1940er Jahre: hatte nicht viel Geld, stach in seiner Redlichkeit, ohne zu | |
| moralisieren, von seiner schillernden Umgebung ab. | |
| Beides, diese Darstellung und auch unsere Identifikation mit dem roten | |
| Bogart nannten wir Revolutionskitsch, ebenso, dass wir die | |
| DDR-Nationalhymne mitsangen, vor Lenin-Bildern posierten oder Lederjacken | |
| wie Hamburger Hafenarbeiter trugen. Solchen Kitsch organisierte Christian | |
| mit seiner KPD in großem Maßstab. | |
| Die Nordsektion der Partei wurde „Wasserkante“ genannt, wie sie zur Zeit | |
| des Lederjackenträgers Thälmann geheißen hatte. Eine Fülle von | |
| Unterorganisationen wurde verfasst: für Schüler, Lehrlinge und Studenten, | |
| für Künstler und fortschrittliche Bürger. Alle mit eigenem Organ und das | |
| Ganze zentralistisch. Einmal kam ich am Kurfürstendamm an einem Stand der | |
| KPD vorbei, an dem Unterschriften für eine Poliklinik in Kreuzberg | |
| gesammelt wurden. | |
| Die Frau mit der Liste sprach mich mit Sie an – dabei kannte ich sie, | |
| Renate, die mit dem Parteiführer Horlemann verheiratet war, seit vielen | |
| Jahren. Ich dachte, sie hätte mich gesiezt, weil für die KPD-Mitglieder | |
| jedes Nichtmitglied ein Fremder geworden war. Aber sie wollte wohl | |
| verbuchen: ein fortschrittlicher Bürger hat für unsere Sache unterschrieben | |
| und nicht einfach: ein alter Bekannter kam zufällig vorbei und hat auch | |
| unterschrieben. Weil ein vorgeblich Fremder unterschrieben hatte, war | |
| vorstellbar, dass jeder Fremde unterschrieb. Verfremdung und Umbenennung | |
| war das Programm. | |
| Was ich so oft befürchtet hatte, war nun eingetreten: Christian verkehrte | |
| nicht mehr mit mir. Wenn er in seinen Parteiverlautbarungen schrieb, eine | |
| bestimmte Kampagne sei unbedacht wiederholt und der Slogan dabei „in | |
| kleiner Münze verschlissen“ worden, freute ich mich an seiner | |
| fortbestehenden Lust am raren Ausdruck. | |
| ## Einen Fehler eingestehen | |
| Wenn er schrieb, Selbstkritik sei nur sinnvoll, wenn es die | |
| Organisationsform gäbe, in der sie aufgehoben werden konnte, erinnerte ich | |
| mich etwas hämisch daran, wie schwer es Christian stets gefallen war, einen | |
| Fehler einzugestehen. | |
| Die neue KPD brachte auch die Zeitschrift Kämpfende Kunst heraus, in der | |
| der Sozialistische Realismus wiederauferstand, mit reproduzierten | |
| Zeichnungen und Gemälden, die unavantgardistisch genug waren, dass sie auch | |
| in die vorgestellte oder reale Arbeiterwohnung der 1970er Jahre hätten | |
| aufgenommen werden können. | |
| Hier wiederholte sich, was wir mit dem Artikel, unter dem unserer beider | |
| Namen stand, über die Filmimporte der DDR für die Filmkritik hatten | |
| brandmarken wollen: ästhetischer Rückstand bei vermeinter politischer | |
| Fortschrittlichkeit. Diese Partei wollte sich in die Weimarer Republik | |
| zurückversetzen und das Heroisierte textgetreu nachspielen. Ein magischer | |
| Akt und eine naive Identifikation, ganz ohne Brecht’sche Distanzierung. | |
| Ich ertappte mich dabei, mich allzu oft und gern über die Kämpfende Kunst | |
| zu empören. Diese Zeitschrift bestätigte mir etwas zu leicht, dass ich gute | |
| Gründe hatte, mich nicht in einer Partei oder Gruppe zu organisieren, und | |
| das linderte etwas mein schlechtes Gewissen. | |
| In der Fernsehsendung „Was war links“ hat Christian darauf hingewiesen, | |
| dass Hunderte von Akademikern in der KPD auf ihr soziales Vorrecht | |
| verzichteten, auf Karriere und Geld. Wenigstens für eine Weile. Erst Mitte | |
| der 1990er Jahre haben wir einander wieder gesehen, nach einer 25-jährigen | |
| Unterbrechung. Als hätten wir ein Schildkrötenleben, sagte Christian dazu. | |
| 13 Feb 2013 | |
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| Harun Farocki | |
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