| # taz.de -- Nationaltrainer Joachim Löw: Schönspieler war ein Schimpfwort | |
| > Wille, Kampf und Regen: Der Wankdorf-Mythos lähmte den deutschen Fußball. | |
| > Löw hat das geändert. Weltmeister wird er mit seiner Defensive kaum. | |
| Bild: Lieber Herr Löw, machen Sie doch mal eine visionäre Geste. Klick. Danke | |
| Es sei ja schön und gut, was Joachim Löw so alles erreicht habe, so lautet | |
| die konventionelle Denkschule. Aber ihm fehle halt ein Titel. Der müsse nun | |
| bei der WM 2014 in Brasilien her. Sonst sei alles letztlich nichts wert. | |
| Löw, 53, ist mittlerweile siebeneinhalb Jahre Trainer der deutschen | |
| Fußballnationalmannschaft. Länger als Jupp Derwall (78–84), Franz | |
| Beckenbauer (84–90), Erich Ribbeck (98–2000) Rudi Völler (2000–04) und | |
| Jürgen Klinsmann (2004–06), dessen Assistent er zwei Jahre war. | |
| Im Frühsommer 2012 erreichte Löw den Gipfel seines Ruhms und war wenige | |
| Tage darauf bei einem Teil der Öffentlichkeit abgestürzt – nach der | |
| Niederlage gegen Italien im EM-Halbfinale. Ein kleiner Teil versuchte eine | |
| interessante Fachdiskussion: Inwiefern sich Löw schlicht vercoacht hatte | |
| oder an seinen Grenzen angelangt war. Die Mehrheitsgleichung war schlicht: | |
| Kein Titel, kein Erfolg. Doch fehlt Löw wirklich ein Titel – oder ist seine | |
| historische Leistung nicht längst größer als der von vielen Unwägbarkeiten | |
| abhängende Turniersieg? Ich argumentiere für Zweiteres. Der Grund: Löw hat | |
| dieses Land vom Wankdorf-Fluch befreit. | |
| Der Wankdorf-Fluch ist die ignorierte Kehrseite des Wankdorf-Mythos. Jener | |
| besteht darin, dass Deutschland neun Jahre nach dem verloren Angriffs- und | |
| Vernichtungskrieg gegen die Welt durch den WM-Sieg 1954 im Bewusstsein der | |
| Deutschen wieder zu existieren begann. Als etwas Positives. Gewonnen wurde | |
| die WM gegen einen als übermächtig empfundenen Gegner. Die Ungarn hatten | |
| tatsächlich die besseren Spieler, ein eingespieltes (Profi-)Team, und sie | |
| spielten den schöneren und moderneren Fußball (mit einer falschen Neun). | |
| Aber am Ende gewannen die Deutschen. Laut Mythos durch Willen, Kampf und | |
| Regenwetter. Faktisch auch, weil Fußball halt Fußball ist. So was passiert. | |
| Die Folge: Das singuläre Ereignis wurde als Rollenmodell missverstanden, | |
| der Faktor Zufall genauso extrahiert wie der Faktor, dass auch Sepp | |
| Herbergers Team an diesem Tag eine moderne Spielstrategie hatte. Über 50 | |
| Jahre sperrten sich die Deutschen danach selbst ein in das Gefängnis der | |
| sogenannten deutschen Tugenden. Tenor: Mögen die anderen den schöneren | |
| Fußball spielen, am Ende gewinnen wir mit unseren gnadenlosen Grätschen. | |
| Auch wenn die Helmut-Schön-Jahre unvergessene Klassiker enthielten: Nur | |
| einmal – und mehr oder weniger zufällig – wurde ein Titel ästhetisch | |
| gewonnen. Das war der EM-Sieg 1972 mit Günter Netzer. Bis heute der | |
| wichtigste Mythos der progressiven Fußballanhänger. Allerdings falsch | |
| verstanden: Nicht der Flugball von Netzer war das moderne Moment, sondern | |
| der Überzahlspieler Beckenbauer. Jedenfalls galt der schöne EM-Titel im | |
| Grunde als undeutsch. „Schönspieler“ war in Deutschland ein Schimpfwort. | |
| Ästhetik wurde zum Trostpreis für notorische Loser wie die Niederlande und | |
| Frankreich abgewertet. | |
| ## Tugenden und Weltklassespieler | |
| Was kümmerte uns die fachliche Entwicklung? Wir hatten Tugenden und zudem | |
| irgendwie ja auch Weltklassespieler. Man dachte tatsächlich, der Erfolg | |
| liege im deutschen Blut begründet. Es lag aber am Modernitätsschub | |
| Bundesligagründung und daran, dass die Strukturen im Westen und im Osten | |
| bis Mitte der 90er genügend exzellente Fußballer mit deutschem Stammbaum | |
| hervorbrachten. Doch ab 1998 war man chancenlos gegen Länder, in denen | |
| modern geschult und gespielt wurde; gegen Länder, die Einwanderer ins | |
| System integrierten. Da half die knorrigste Grätschverteidigung nichts | |
| mehr, im Gegenteil. | |
| Die Veränderung möglich gemacht haben Erich Ribbeck und Lothar Matthäus. | |
| Der Teamchef und sein tief hintendrin stehender Libero waren dem | |
| Weltfußball derart hilflos ausgeliefert, dass die Rückständigkeit nicht | |
| mehr zu übersehen war. Aus Sorge um den deutschen Fußball wurden im Jahr | |
| 2000 die verpflichtenden Nachwuchsleistungszentren eingeführt. | |
| Aber selbst da brauchte es noch vier Jahre Weiter-so-Gemurkse durch Rudi | |
| Völler, um plötzlich den Homo novus Klinsmann als Teamchef und dazu den | |
| ausdrücklich von ihm gewünschten Assistenten Löw zu bekommen. „Klinsmann | |
| war der Change Agent, Löw ist der Verstetiger“, sagt der | |
| Wirtschaftswissenschaftler Sascha Schmidt, der an der EBS-Universität | |
| sozioökonomische Auswirkungen des Sports erforscht. Im Auftrag von | |
| Sportdirektor Oliver Bierhoff hat er die Nationalmannschaft nach Kriterien | |
| erfolgreicher Unternehmensentwicklung untersucht. | |
| Völlers Bankrotterklärung bei der EM 2004 konnte Klinsmann angesichts der | |
| Heim-WM 2006 als Legitimation nehmen für einen ungewöhnlich großen und | |
| schnellen Veränderungsprozess. Der kalifornische Gast nahm den Laden in | |
| kürzester Zeit gegen heftige Widerstände auseinander, setzte ihn neu | |
| zusammen, überwand die Krise und etablierte den DFB wieder auf höchstem | |
| Niveau. Ein Change Agent, sagt Schmidt, müsse unpopuläre und harte | |
| Entscheidungen treffen und sei daher am besten eine temporäre Figur. | |
| Klinsmann war ideal dafür. Löw hätte das nicht gekonnt. Die Rolle des | |
| Verstetigers dagegen liegt ihm. Zudem harmonierte er von Anfang an mit dem | |
| Fußball, der in den neuen Nachwuchsleistungszentren gelehrt wird. | |
| Seit Sommer 2006 hat er das Team, was die Ergebnisse angeht, auf höchstem | |
| Niveau stabilisiert (EM-Vize 2008, WM-Dritter 2010, EM-Halbfinale 2012). | |
| Kader und Stil hat Löw in seiner Zeit deutlich weiterentwickelt: Noch nie | |
| in der Geschichte dieses Fußballverbands hat die Nationalmannschaft über | |
| Jahre hinweg eine derartige Kombination von Erfolg, Ästhetik und | |
| Fußballmoderne hinbekommen. | |
| ## Freuen auf Länderspiele | |
| Früher wurschtelte man sich durch Qualifikationen und Turniere. Heute freut | |
| man sich auf jedes Länderspiel. Und häufig zu Recht. Löw hat in den letzten | |
| zweieinhalb Jahren reihenweise große Fußballunterhaltung geliefert. 6:2 | |
| gegen Österreich, 3:2 gegen Brasilien. 3:0 gegen Niederlande. 4:2 gegen | |
| Griechenland und 2:1 gegen Niederlande bei der letzten EM. 6:1 in Irland | |
| und zuletzt ein 5:3 gegen Schweden. 6:1 in Irland. | |
| Warum gilt das 3:4 gegen Italien von 1970 als epochal, das 4:4 gegen | |
| Schweden vom vergangenen Oktober aber als größter anzunehmender | |
| Fußballunfall? Hier wie dort wurde fehlerhaft verteidigt. Das eine war ein | |
| WM-Halbfinale, das andere nur WM-Qualifikation: Aber beide Spiele haben | |
| eine Spur hinterlassen in der kollektiven Erinnerung. Wegen ihres | |
| außergewöhnlichen Unterhaltungswerts und des Bruchs mit dem Normalen. | |
| Welchen Wert hätte – angesichts von neun Siegen in zehn | |
| Qualifikationsspielen – ein dahergestolpertes 1:0 gehabt? Sicher bleiben | |
| Titel in Erinnerung, aber erst die ästhetische Begründung im Sinne César | |
| Luis Menottis macht Fußball zu unvergesslichen Erlebnissen eines Moments | |
| und in der kollektiven Erinnerung. Sonst hat man zwar gewonnen, aber wozu, | |
| wodurch und wofür? | |
| Das alles heißt nicht, dass Deutschland nicht Weltmeister werden soll. | |
| Falls man es wird, umso besser. Falls nicht, liegt es jedenfalls nicht an | |
| fehlenden Tugenden, Eiern oder Führungsspielern. | |
| ## Die Lokomotive wird überholt | |
| Die entscheidende Frage lautet: Ist Löws Team nach Jahren der behutsamen | |
| Weiterentwicklung noch an der Spitze der Fußballmoderne? Es war | |
| ungewöhnlich und solitär, dass die Nationalmannschaft jahrelang Frontrunner | |
| und Lokomotive der deutschen Fußballmodernisierung war. Was Löw machte, war | |
| State of the Art. Die Bundesliga sollte gefälligst hinterher kommen. Doch | |
| am Ende dieses Jahres sieht es aus, als sei Löw überholt worden. | |
| Sichtbar wurde es, als er im November beim Testspiel in Italien seinen | |
| rechten Verteidiger Philipp Lahm ins Mittelfeld beorderte – wie es zuvor | |
| Josep Guardiola bei den Bayern getan hatte. Löw war immer ein Anhänger | |
| jenes Fußballs, mit dem Guardiola den FC Barcelona zum Nonplusultra gemacht | |
| hatte. Doch nun hat Guardiola den Barça-Stil bei den Bayern – angesichts | |
| der zunehmenden Modernisierung der Konkurrenz – deutlich erweitert. | |
| Es gibt neben den klassischen Ballstafetten auch Flugbälle (etwa um | |
| Dortmunds Pressing zu entgehen). Es gibt die gute, alte Flanke, die der | |
| Kopfballspezialist Mandzukic reinwuchtet. Es gibt viele Varianten und in | |
| vielen Spielen eine mehrfache Veränderung der Strategie. Im Moment sieht es | |
| aus, als habe Guardiola auf alles eine taktische Antwort. | |
| Das kann man von Löw nicht sagen. Sein Team hat einen wunderbaren Stil, | |
| aber es kann nicht so variieren wie die Bayern, um unterschiedliche | |
| Spielphasen zu meistern oder herzustellen. Und auch wenn die Aufregung | |
| überhitzt ist: Mit einer Defensivarbeit, wie sie Löws Team liefert, kann | |
| man nicht Weltmeister werden. Das ist kein Vorurteil, sondern wird durch | |
| Zahlenmaterial belegt. Die Gegentorquote der Turniersieger seit der WM | |
| 2006: Italien 0,8, Spanien 0,5, Spanien 0,3, Spanien 0,2 Gegentore pro | |
| Spiel. Zwar schießt der DFB so viele Tore wie sonst kein Topteam, bekommt | |
| aber im Schnitt deutlich mehr als ein Gegentor pro Spiel. Damit hat man bei | |
| einem engen Turnier keine Chance. | |
| ## Spiel gegen den Ball | |
| Hier sind wir an einem heiklen Punkt: Das Solitäre an Barça und der Grund | |
| für die Überlegenheit war das Spiel gegen den Ball. Der Grund für den | |
| Champions-League-Sieg der Bayern? Das radikal verbesserte Spiel gegen den | |
| Ball. Der Grund für den Aufstieg von Borussia Dortmund? Das Spiel gegen den | |
| Ball. | |
| Dieses Spiel gegen den Ball muss ein Trainer so überzeugend und identitär | |
| vermitteln können, dass die Spieler es als mindestens gleichberechtigten | |
| Grund verstehen und erleben, warum sie Fußball spielen wollen. Das Spiel | |
| gegen den Ball ist heute Teil des Spektakels. „Gegenpressing ist der beste | |
| Spielmacher“, wie Jürgen Klopp sagt. Trainer wie er oder Christian Streich | |
| strahlen dieses zeitgemäße Verständnis von Ästhetik aus. | |
| Manchmal macht es den Eindruck, der ehemalige Kreativfußballer Löw sei in | |
| dieser Beziehung eher Traditionalist. Das ändert nichts an seiner | |
| herausragenden Stellung, was die Entwicklung des deutschen Verbandsfußballs | |
| angeht. Da steht er gleichberechtigt neben Sepp Herberger – ganz oben. | |
| 1 Jan 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
| ## TAGS | |
| Fußball | |
| Jogi Löw | |
| Weltmeisterschaft | |
| Brasilien | |
| Fußball | |
| Fußball | |
| WM 2014 | |
| Deutscher Fußballbund (DFB) | |
| Bundestrainer | |
| Deutscher Fußballbund (DFB) | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| Schwerpunkt Fußball-EM 2024 | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Deutschlands WM-Kader: Mario allein zu Haus | |
| Jogi Löw hat seinen vorläufigen Kader für die Fußball-WM in Brasilien | |
| vorgestellt. Es gibt einige Überraschungen im Aufgebot der deutschen | |
| Nationalmannschaft. | |
| Der Fallrückzieher wird 100 Jahre: Orientierungsloser Überschlag | |
| Der Fallrückzieher feiert großes Jubiläum. Uraufgeführt hat ihn Ramon | |
| Unzaga, ein baskischer Auswanderer in der südchilenischen Hafenstadt | |
| Talcahuano. | |
| Gruppenauslosung für Fußball-WM: Viel Getöse ums Gelose | |
| Anderthalb Stunden Gala, Live-Übertragung in 193 Länder, Lodda und Zidane | |
| als Losfeen. Die Fußball-WM in Brasilien beginnt quasi. Es wurde höchste | |
| Zeit. | |
| Kolumne Press-Schlag: Der Mittler und die Masse | |
| Joachim Löw hat den fußballwahnsinnigen Deutschen attraktiven Sport | |
| beschert. Jetzt verlangt das Volk einen Titel. Schönspielen reicht nicht | |
| mehr. | |
| Kommentar Vertragsverlängerung Löw: Was für ein grandioser Unsinn! | |
| Der DFB und Bundestrainer Jogi Löw sind sich einig. Und Deutschland | |
| diskutiert eine Vertragsverlängerung, die eigentlich keine ist. | |
| DFB-Elf entäuscht gegen Paraguay: Mut zur Lücke | |
| Weil die Null nicht steht, gerät die Abwehrschwäche der Mannschaft von Jogi | |
| Löw erneut in den Fokus. Denn hinten herrschte erneut fatale Sorglosigkeit. | |
| Joachim Löw ist sauer: Auch Spanien hat einen Koch | |
| Vor dem Spiel der deutschen Fußballnationalmannschaft gegen Argentinien | |
| platzt Bundestrainer Löw der Kragen. Kritik begegnet er mit Trotz, zum | |
| Sportlichen sagt er wenig. | |
| Nach dem EM-Aus der Deutschen: Vercoacht und zugenäht! | |
| Nach der EM-Halbfinal-Niederlage stellt sich Joachim Löw vor seine | |
| Mannschaft – und muss sich für seine Aufstellung erklären. Er habe das | |
| Zentrum stärken wollen, so Löw. | |
| Joachim Löw: Bester Trainer wo gibt | |
| Erst galt der Bundestrainer als zu nett, dann war er nur der Assistent. | |
| Inzwischen ist Joachim Löw der unumstrittene Chef. Jetzt fehlt nur noch ein | |
| Titel. |