# taz.de -- Umzug statt Aufnahmestopp: Die Hamburger Tafeln sind überlaufen | |
> Weil immer mehr Menschen dort Lebensmittel holen, haben einige | |
> Ausgabestellen einen Aufnahmestopp verhängt. Die größte, in der Siedlung | |
> Osdorfer Born, geht einen anderen Weg. | |
Bild: Kommt oft direkt aus dem Supermarkt: Gemüse der Tafel. | |
HAMBURG taz | Eisiger Wind weht um die sechs bunten Häuser, die wie | |
hingeworfen auf der Wiese stehen, umrahmt von den Hochhäusern der Hamburger | |
Großsiedlung Osdorfer Born. Vom Sozialkaufhaus über einen Seniorentreff bis | |
zur Elternschule: 19 Initiativen und Vereine sind in der ehemaligen | |
Grundschule untergebracht. In das knallrote Haus mit den bodentiefen | |
Fenstern gleich an der Einfahrt zieht nun die größte Ausgabestelle der | |
Hamburger Tafel ein. Ihre alten Räume sind zu klein geworden für den stetig | |
wachsenden Andrang. | |
Ein Problem nicht nur am Osdorfer Born: Weil sich immer mehr Menschen dort | |
Lebensmittel holen, sieht sich die Hamburger Tafel, die fast ausschließlich | |
mit Ehrenamtlichen arbeitet, langsam an der Kapazitätsgrenze. Was tun, wenn | |
die Zahl der Bedürftigen die Mittel übersteigt? Die Antwort einiger | |
Ausgabestellen: Aufnahmestopp. | |
„Ich halte nichts davon, Menschen wegzuschicken und auf Wartelisten zu | |
setzen“, sagt Roland Schielke vom Stadtteilbüro Osdorfer Born. Zusammen mit | |
dem Diakonischen Werk Hamburg-West/Südholstein und in Kooperation mit der | |
Hamburger Tafel gibt das Stadtteilbüro Lebensmittel an Bedürftige aus. Die | |
inzwischen 700 Kunden hat man in zwei Gruppen aufgeteilt: 350 kommen an dem | |
einen Freitag, die anderen 350 am Freitag darauf und so weiter. | |
In den alten Räumen mussten die Menschen auf der Straße warten bis sie an | |
der Reihe waren, auch schon mal eine oder zwei Stunden. Dort gab es nur | |
eine Tür, wer rein oder raus wollte, muss sich dort durchschieben. Im neuen | |
roten Haus gibt es ein Café, wer will, kann hier auch für 2,50 Euro ein | |
Mittagessen bekommen oder einfach nur im Warmen warten. Und der neue | |
Ausgaberaum mit dem roten Linoleumfußboden, der auch für Yoga-Gruppen oder | |
Kinderturnen genutzt wird, hat zwei Türen: rein über den Flur, raus durch | |
eine Tür in der Glasfront. Es wird also künftig weniger Gedränge geben. | |
Während des Umzugs wird zwei Wochen lang nichts verteilt. „Einige Kunden | |
haben schon etwas gemurrt“, sagt Schielke. Die Hilfe wird oft als eine | |
Selbstverständlichkeit betrachtet. Dabei sollte sie eigentlich nur ein | |
kleines Zubrot sein, um mit dem gesparten Geld vielleicht ins Kino oder ins | |
Schwimmbad zu gehen. Schielke, 60, ist Sozialpädagoge. Wer im Osdorfer Born | |
Lebensmittel bekommen will, meldet sich bei ihm im Stadtteilbüro an. Rund | |
10.000 Menschen wohnen in der 1972 fertiggestellten Siedlung, beinahe jeder | |
Dritte bezieht Hartz IV. Im Bezirk Hamburg-Altona, zu dem das Quartier | |
gehört, sind es durchschnittlich 9,5 Prozent. | |
Die einen kommen ohne zu zögern zu Schielke und nehmen die Unterstützung | |
an. Die anderen versuchen alles, um allein zurechtzukommen – bis es einfach | |
nicht mehr geht. Es sind immer häufiger ältere Menschen. Gerade wegen | |
dieser zweiten Gruppe hält Schielke einen Aufnahmestopp für falsch: „Wenn | |
die Menschen ihre Scham überwunden haben und wir sie dann wegschicken, ist | |
das ein ganz falsches Signal.“ Für einen zweiten Anlaufe fehle ihnen | |
vielleicht der Mut. | |
Zuerst, 2007, wurden die Lebensmittel im Einkaufszentrum verteilt. Das ging | |
nicht lange gut, bald schon störten sich Kunden und Inhaber der anderen | |
Geschäfte an der Menschentraube, die sich an den Ausgabetagen bildete. Also | |
zogen man um, in den Keller des Einkaufszentrums. „Wir waren damals die | |
erste Ausgabestelle der Tafel in Hamburg und es ist Wahnsinn, was wir an | |
Lebensmitteln bekamen“, erinnert sich Schielke. | |
Er schließt die Tür zu einem der neuen Lagerräume auf. Hier stapeln sich | |
Kartons, in der Ecke steht eine Tiefkühltruhe. Nebenan, im Raum mit dem | |
roten Boden, wird künftig immer freitags verteilt. Möglichst würdig, wie | |
Schielke sagt: So werden hier keine Tüten abgepackt, sondern auf | |
Klapptischen „Stationen“ aufgebaut, vom Gemüse bis zum Fleisch. Die Kunden | |
können sich aussuchen, was sie mögen. | |
Heute können am Osdorfer Born längst nicht mehr so viele Lebensmittel | |
verteilt werden wie noch vor sieben Jahren: Die Spenden müssen mit rund 20 | |
anderen Ausgabestellen in der Stadt geteilt werden. Jeder dieser Orte baut | |
sich ein Netzwerk auf, bekommt etwa das nicht verkaufte Brot aus den | |
umliegenden Bäckereien. Diese kalkulierten Überproduktion ein, sagt | |
Schielke: „Damit die Regale immer voll sind.“ | |
Einen großen Teil ihrer Lebensmittel bekommen alle Ausgabestellen von der | |
Zentrale der Tafel, die seit sechs Jahren in einem Gewerbegebiet im | |
Stadtteil Barmbek untergebracht ist. Hier stehen, in einer | |
1.200-Quadratmeter-Lagerhalle samt Kühl- und Tiefkühlbereich, palettenweise | |
Salz, Dosensuppen, Nudeln, Chips, Tee, Cornflakes. | |
Die Lebensmittelindustrie spendet heute auch direkt an die Tafel, | |
Ladenhüter oder sogenannte Knickware, also Konserven mit Beulen. Mehr als | |
zwei bis drei Prozent dieser Knickware duldet die Industrie nicht – und | |
mustert dann lieber ganze Chargen aus. Die Unternehmen sparen sich dank der | |
Tafeln die Entsorgung und können die Herstellungskosten als Spende | |
absetzen. | |
In einer großen Holzkiste sind dreibeinige oder krumme Möhren gelagert: die | |
Spende eines Biobauern, der solches, nicht konformes Gemüse nicht los wird. | |
Die Tafel-Zentrale beschäftigt zurzeit drei festangestellte Mitarbeiter, | |
dazu zwei Bundesfreiwilligendienstler. Sie koordinieren die Arbeit von mehr | |
als 100 ehrenamtlichen Helfern. Die Frühschicht fährt morgens mit | |
Transportern los, sammelt bei den Supermärkten die Ware ein. In der | |
Zentrale. Hier wird ausgeladen, aussortiert, die Transporter werden wieder | |
beladen, die Spätschicht beliefert dann die Ausgabestellen. | |
Die Ursprungsidee der Tafel war einmal, Obdachlose mit Lebensmitteln zu | |
versorgen. Heute hat geht es zunehmend darum, überflüssige Lebensmittel an | |
Bedürftige zu verschenken. „Der wachsende Andrang ist einerseits Resultat | |
wachsender Armut, andererseits auch ein Zeichen sinkender Hemmschwellen, | |
derlei Angebote zu nutzen“, sagt Luise Molling, Mitbegründerin des | |
Kritischen Aktionsbündnisses 20 Jahre Tafel. | |
Die 33-Jährige ist wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Forschungsprojekt | |
„Tafel-Monitor“ der Hochschulen Furtwangen und Esslingen, das die Nutzer- | |
und Helferperspektive auf Tafeln untersucht. „Die Gesellschaft hat sich | |
daran gewöhnt, dass Armut nicht politisch bekämpft, sondern nur noch durch | |
Almosen gelindert wird“, sagt sie. | |
Den Umzug einer Ausgabestelle in ein größeres Gebäude hält sie für den | |
falschen Weg: „Immer nur weiter zu wachsen und sich zu professionalisieren | |
bedeutet für die Tafeln, immer zuverlässiger die Lücken zu füllen, die der | |
Sozialabbau hinterlässt.“ Es sei nur eine Frage der Zeit, bis in | |
Deutschland ähnlich wie in den USA Bedürftige statt Arbeitslosengeld nur | |
noch Gutscheine für die Tafeln erhielten. Außerdem funktioniere das ganze | |
System angebotsinduziert: Je mehr Tafeln es also gebe, desto mehr würden | |
sie auch genutzt. | |
„Wir kennen diese Kritik“, sagt Achim Müller. Der 70-Jährige hat früher | |
Wohnungen vermietet und kam vor acht Jahren zur Tafel, weil ihn der | |
Ruhestand langweilte. Er nennt sich selbst eine Art Mädchen für alles in | |
der Zentrale der Hamburger Tafel, montags bis donnerstags ist er hier und | |
kümmert sich. „Aber wir sehen auch, dass das Geld, was der Staat den | |
Bedürftigen zahlt, einfach nicht ausreicht, und wenn wir da eine Lücke | |
schließen können, dann machen wir das.“ | |
Für Schielke ist die Sache weniger eindeutig: „Eigentlich wäre es besser, | |
wir würden es mal darauf ankommen und alles zusammenfallen lassen“, sagt | |
er. Denn solange man hier Lebensmittel verteile, falle es viel weniger auf, | |
dass die Grundsicherung einfach nicht ausreiche. Er mag es nicht, dass | |
häufig Journalisten kommen, um mal arme Menschen anzuschauen, zu | |
fotografieren oder zu filmen. Es stört ihn auch, dass die Ausgabestellen | |
immer mehr als ganz selbstverständlicher Teil des Hilfsangebots betrachtet | |
werden – sowohl von der Arbeitsagentur, die etwa Hartz-IV-Bezieher zu ihnen | |
schickt, als auch von den Tafel-Kunden selbst. | |
„Es müsste ein politisches Interesse bestehen, Armut nachhaltig zu | |
bekämpfen“, sagt Kritikerin Molling. Der Mindestlohn wäre ein kleiner | |
Schritt, aber ohne Maßnahmen wie eine deutliche Anhebung der Regelsätze, | |
das Ende der Sanktionspraxis, eine existenzsichernde Mindestrente und | |
kostenloses Schulessen seien viele Menschen weiter auf die Tafel | |
angewiesen. | |
„Wir diskutieren oft darüber, ob es eigentlich gut und sinnvoll ist, was | |
wir hier tun“, sagt Roland Schielke vom Stadtteilbüro Osdorfer Born, „oder | |
ob wir nicht gerade dadurch das System am Laufen halten.“ Und dann komme | |
man doch immer zu dem Ergebnis, die Kunden nicht hängen zu lassen – und | |
mache weiter. | |
26 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Ilka Kreutzträger | |
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