# taz.de -- Tunesien hat eine neue Verfassung: Ein Schritt in Richtung Demokrat… | |
> Das Parlament in Tunesien verabschiedet nach zweijähriger Debatte die | |
> neue Verfassung des Landes. Von der Scharia ist nicht die Rede. | |
Bild: Geschafft: Deputierte freuen sich in der Nationalversammlung. | |
MADRID taz | Tunesien ist einen wichtigen Schritt weiter im Übergang von | |
der Diktatur zur Demokratie. Am Sonntagabend verabschiedete das Parlament | |
die Verfassung für die zweite tunesische Republik. Außerdem stellte der | |
unabhängige Premier Mehdi Jomaa sein Technokratenkabinett vor, das das | |
nordafrikanische Geburtsland des Arabischen Frühlings zu den Wahlen führen | |
soll, die für die zweite Jahreshälfte vorgesehen sind. | |
Es war einer der wenigen Augenblicken echter Einheit. Kaum war das | |
Abstimmungsergebnis über den gesamten Text der 146 Artikel starken neuen | |
Verfassung bekannt - 200 Ja, 12 Nein und 4 Enthaltungen -, erhoben sich die | |
Abgeordneten aller Parteien und stimmten die Nationalhymne an. Der Text, in | |
dem von Freiheit und gesprengten Ketten die Rede ist, kam seit dem Sturz | |
des langjährigen Diktators Zine El Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 zu | |
neuen Ehren. | |
„In dieser Verfassung finden sich alle Tunesier und Tunesierinnen wieder. | |
Sie wahrt unsere Errungenschaften und legt das Fundament für einen | |
demokratischen Staat“, jubelte der Präsident der Verfassunggebenden | |
Versammlung, Mustapha Ben Jaafar. | |
Über zwei Jahre hatte es gedauert, bis die Verfassung endlich fertig war. | |
Meinungsverschiedenheiten zwischen der stärksten Fraktion im Parlament, der | |
islamistischen Ennahda, und den säkularen Kräften hatten den | |
Verfassungsprozess immer wieder zum Stocken gebracht. Mehrmals drohte der | |
politische Übergang zur Demokratie zu scheitern. So im Februar und im Juli | |
vergangenen Jahres, nachdem jeweils ein linker Oppositionspolitiker | |
ermordet wurde. Es war letztendlich der Druck der tunesischen | |
Zivilgesellschaft und die vermittelnde Tätigkeit der mächtigen Gewerkschaft | |
UGTT, die zur Einigung führte. | |
Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Tunesiens Verfassung sieht einen | |
modernen Staat vor. Das islamische Recht wird nicht festgeschrieben. Die | |
Frauenrechte, für die das Land seit seiner Unabhängigkeit von Frankreich | |
Vorbildcharakter in der arabischen Welt hat, wurden ausgebaut. Der Staat | |
wacht zwar über die Religion, garantiert aber gleichzeitig die | |
Gewissensfreiheit aller Bürger. Die Verunglimpfung als „Ungläubiger“ wird | |
unter Strafe gestellt, die Justiz ist unabhängig. Tunesien wird ähnlich wie | |
Portugal einen starken gewählten Präsidenten und gleichzeitig einen | |
eigenständigen Premierminister haben. Keiner der beiden hält die ganze | |
Macht in den Händen. | |
## Durch die Debatte gelernt | |
Es kam immer wieder zu hitzigen Debatten, doch letztendlich fanden sich | |
Kompromisse und breite Mehrheiten. „Der Prozess hat lange gedauert und war | |
nicht immer leicht, aber ich glaube, dass die zweieinhalb Jahre gut | |
investiert sind, denn die Menschen haben durch die Debatten viel gelernt“, | |
bewertet die Frauenrechtlerin Radhia Belhaj Zekri den Verfassungsprozess. | |
Sie ist zufrieden mit der Rolle der Zivilgesellschaft. Die Islamisten | |
wollten in der Verfassung statt der Gleichberechtigung der Geschlechter | |
festschreiben, dass Männer und Frauen „sich ergänzen“. „Mehrere | |
Großdemonstrationen der Frauenbewegung konnten dies verhindern“, sagt | |
Belhaj Zekri. Jetzt ist sogar von Parität die Rede. | |
Für die ebenfalls am Sonntag vorgestellte Übergangsregierung gilt dies | |
freilich nicht. Untern den 21 Ministern um den parteiunabhängigen Mehdi | |
Jomaa finden sich nur zwei Frauen. Jomaa, bisher Industrieminister im | |
islamistischen Kabinett, wurde nach einem Nationalen Dialog zwischen | |
Opposition und Ennahda unter Vermittlung der Gewerkschaft UGTT, dem | |
Arbeitgeberverband und der Anwaltsvereinigung sowie der Menschenrechtsliga | |
mit der Bildung eines Technokratenkabinett beauftragt. | |
Die neue Regierung muss in den nächsten Tagen vom Parlament abgesegnet | |
werden. Trotz Meinungsverschiedenheiten über den Verbleib des alten | |
Innenministers Lotfi Ben Jeddou dürfte eine Mehrheit hinter der neuen | |
Regierung stehen. Ein Teil der Opposition wirft Ben Jeddou vor, zu lasch | |
gegen radikale Islamisten vorgegangen zu sein. Dies habe die Entstehung von | |
Terrorzellen - wie der, die im Juli einen linken Oppositionspolitiker | |
ermordete - begünstigt. | |
27 Jan 2014 | |
## AUTOREN | |
Reiner Wandler | |
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