Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Abschiebung aus Berlin: „Wo sollen wir hin?“
> Eine tschetschenische Familie mit zwei schwerbehinderten Kindern wird
> zurück nach Polen geschickt. Dort mangelt es an medizinischer Hilfe.
Bild: In der Charité schon verabredete Operationen sollen in Polen nicht mögl…
WARSCHAU taz | „Angst. Ich habe solche Angst. Nicht um mich, sondern um
meine Kinder und meine Frau“, flüstert der junge Tschetschene vor der
zentralen Flüchtlingsaufnahmestelle in Polen. Die ehemalige Kaserne liegt
mitten im Wald, knapp drei Kilometer entfernt von der nächsten Bahnstation
in Debak-Nadarzyn bei Warschau. Der Mann zupft an seiner blauen
Winterjacke: „Die stammt noch aus Berlin. Da waren wir glücklich. Wir
fühlten uns sicher, hatten keine Angst – bis zur Deportation.“
Seit der Rückführung nach Polen vor ein paar Tagen ist die fünfköpfige
Familie A. nach 15 Monaten Asylverfahren in Deutschland wieder in Warschau.
Die Familie war aus der politisch nach wie vor instabilen Kaukasus-Republik
Tschetschenien über Polen nach Deutschland geflohen, nachdem der Bruder von
Apti A. aus politischen Gründen ermordet worden war.
In Berlin hatte die Familie sogar eine eigene Wohnung beziehen können, A.
wollte demnächst einen Deutschkurs beginnen und sich beruflich fortbilden –
er ist gelernter Lkw-Mechaniker.
Jetzt sei seine Frau völlig aufgelöst und in Panik, erzählt der 30-jährige
A. Die zweijährige Tochter Samira verweigere das Essen. Sie ist schwer
behindert, ebenso wie ihre vierjährige Schwester Marcha. Nur deren
Zwillingsbruder Ramson ist gesund. „Die Kleine sollte in der Charité
operiert werden. Alles war vorbereitet. Die Ärzte sagten, sie würde danach
laufen können.“ A. schlägt die Hände vors Gesicht: „Dann kam die Polizei
und holte uns ab.“
## Trauma bei der Familie
Bozena Myszak, die Leiterin des Flüchtlingsheims, bestätigt in einem
Telefongespräch, dass das Herausreißen der schwerbehinderten Kinder aus
ihrer sicher geglaubten neuen Heimat in Berlin ein Trauma bei der Familie
ausgelöst habe. „Natürlich tun wir alles in unserer Macht Stehende, um den
Flüchtlingen zu helfen. Aber machen wir uns doch nichts vor: Polen ist
nicht Deutschland. Wir sind nach wie vor ein armes Land.“
Die Kinder würden ärztlich so gut betreut, wie es in Polen eben möglich
sei. Sie schweigt vielsagend. Es ist allgemein bekannt, dass das
Gesundheitssystem in Polen eines der schlechtesten in der EU ist. Auch
polnische Staatsbürger fahren oft ins Ausland, um sich dort privat
behandeln zu lassen, da Wartefristen auf eine Operation bis zu zehn Jahre
betragen können.
In den Augen von Apti A. flackert Angst: „Mein Bruder wurde bereits
ermordet. Ich werde der nächste sein. Das weiß jeder bei uns. Was aber wird
dann aus meiner Familie?“ In einer kleinen Gaststätte unweit des Bahnhofs
von Debak-Nadarzyn schiebt er den Berliner Schwerbehindertenausweis und die
medizinische Dokumentation der mehrfach hirnoperierten Samira über den
Tisch. „Die Charité und die tägliche Physiotherapie haben unseren Kindern
eine Tür in die Zukunft geöffnet.“
A. deutet auf das Bild seiner Vierjährigen. „Wir hatten ihr schon gesagt,
dass sie eine Operation haben wird und viele Schmerzen aushalten muss. Aber
dass sie am Ende laufen wird. Endlich laufen.“ Fassungslosigkeit zeichnet
sich in seinem Gesicht ab. „Damit ist es jetzt vielleicht vorbei!“
## Keine Therapie mehr
Natürlich habe er gewusst, dass Deutschland nach dem Dubliner Abkommen das
Recht hat, Asylbewerber in das erste sichere Drittland auf dem Fluchtweg
abzuschieben, in diesem Fall also nach Polen. „Aber“, ringt er nach Worten,
„hier in Polen bin ich sicher. Ich. Nur ich. Aber es geht doch auch um die
Kinder. Ich bin verantwortlich für sie.
Keiner der Ärzte in Polen hat Samira und Marcha Hoffnung auf ein normales
Leben machen können.“ Wäre die Familie 2012 in Polen geblieben, wäre Samira
möglicherweise schon tot. Die polnischen Ärzte hätten damals nichts
unternommen, den immer weiter anschwellenden Wasserkopf seines Kindes zu
behandeln. Und nun, nach der Rückführung aus Berlin vor ein paar Tagen, sei
er in Warschau sofort ins Krankenhaus des Innenministeriums gegangen, das
beste in Polen.
Hilflos zuckt er mit den Schultern, „von einer Fortsetzung der Therapien
für die Kinder war aber keine Rede mehr. Die Mädchen haben seit Tagen keine
Physiotherapie mehr bekommen, und Marcha wird – zumindest in Polen –
niemals laufen lernen.“
Verantwortlich für die Rückführung der behinderten und schwerkranken Kinder
nach Polen sind das Verwaltungsgericht Berlin und das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (BAMF) mit Sitz in Nürnberg. Die Berliner Richter
stellten mit Beschluss vom 25. November 2013 und vom 13. Februar 2014 fest,
dass in Polen keine systemischen Mängel im Asylverfahren vorlägen, die „zu
einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung“ führen würden und auch
die medizinische Betreuung der behinderten Kinder im Nachbarland
hinreichend gewährleistet sei. Danach hatten die Beamten des BAMF keine
Bedenken mehr, die fünfköpfige Familie zurück nach Polen zu schicken.
## Mit den Nerven am Ende
Den Richtern fiel dabei offenbar nicht auf, dass die kleine Samira 2012
zwar einige Wochen in einem polnischen Krankenhaus gelegen hatte, das
lebensrettende Titan-Ventil, das bis heute das überschüssige Hirnwasser aus
dem Kopf des Kindes ableitet, aber erst in der Charité eingesetzt wurde.
„Die reibungslose Fortführung der in Deutschland erfolgten medizinischen
Versorgung“, so das Gericht am 25. November 2013, könne die Mitarbeiterin
des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge in Polen sicherstellen.
Tatsächlich, so die Auskunft der BAMF-Pressesprecherin Christiane Germann,
habe sich diese Mitarbeiterin bereits vom medizinischen Koordinator in
Debak-Nadarzyn bestätigen lassen, dass die Familie in Warschau medizinisch
betreut werde. Dies heißt allerdings nicht viel. Der medizinische
Koordinator betreut alle Flüchtlinge in Debak-Nadarzyn. Er ist die erste
Anlaufstelle für sämtliche gesundheitlichen Beschwerden, verschreibt
Rezepte und stellt Überweisungsscheine zu Spezialisten aus.
Wieder ruft die Frau von Apti A. an. Sie ist mit den Kindern im
Flüchtlingsheim zurückgeblieben – die Mädchen wurden inzwischen wieder aus
dem Krankenhaus entlassen, das die in Deutschland begonnene Therapie
ohnehin nicht fortsetzen kann. Ob alles in Ordnung sei?, will Frau A.
wissen. Ihr Mann beruhigt sie zum wiederholten Mal. Er sitze in einer
Gaststätte in Debak und komme gleich zurück. Seine Frau sei mit den Nerven
völlig am Ende, sagt A. „Uns macht die Angst zu schaffen. Wo sollen wir
noch hin?“
Demnächst soll Familie A. ins südpolnische Lublin gebracht werden und im
dortigen Flüchtlingsheim auf den Ausgang des Asylverfahrens warten. Die
medizinische Betreuung für Marcha und die kleine Samira in Lublin? So gut
wie in Polen eben möglich.
25 Feb 2014
## AUTOREN
Gabriele Lesser
## TAGS
Abschiebung
Berlin
Polen
Flüchtlinge
Asyl
Flüchtlinge
Spanien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Beratung zur „freiwilligen Ausreise“: Abschiebung kinderleicht
Ein Projekt des Roten Kreuzes erklärt Flüchtlingskindern im Comic die
Rückkehr in die Herkunftsländer ihrer Familien. Aktivisten kritisieren das
Vorgehen.
Bayern verlangt Ausreise von Frau: Aus Kirchenasyl abgeschoben
Die Behörden sahen „keinen Ermessensspielraum“. Eine alleinerziehende
Mutter mit vier Kindern wird aus dem Kirchenasyl nach Polen abgeschoben.
Flüchtlinge aus Berlin abgeschoben: In Lebensgefahr
Eine Familie wird nach Polen abgeschoben, obwohl die Versorgung der
behinderten Kinder dort nicht gegeben ist.
Illegale Abschiebung von Flüchtlingen: Grenzschutz um jeden Preis
Die spanische Guardia Civil schiebt Flüchtlinge aus der Exklave Mellila
durch den Grenzzaun nach Marokko ab – darunter auch Verletzte.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.