| # taz.de -- Städtebau in Berlin: "Die Armen rücken zusammen" | |
| > Neue Lebensformen machen die Stadt attraktiver, sagt Architektursoziologe | |
| > Harald Bodenschatz. | |
| Bild: Die Stadt wandelt sich rasant. Proteste helfen nur bedingt. | |
| taz: Herr Bodenschatz, Sie sagen, die Kampflinie zwischen Arm und Reich | |
| verlaufe heute quer durch die Berliner Hinterhöfe. Was meinen Sie damit? | |
| Harald Bodenschatz: Jedem, der früher im dritten Hinterhof wohnte, war | |
| klar, dass er weniger privilegiert war, dass er eine geringere Miete zahlte | |
| und einem eindeutigen sozialen Milieu zuzuordnen war. Nicht nur zwischen | |
| Vorder- und Hinterhaus trennten sich die Milieus, auch ob man im ersten | |
| oder im vierten Stock wohnte, verwies auf einen bestimmten sozialen Status. | |
| Lange galten die Mietskasernenquartiere aus der Zeit vor dem Ersten | |
| Weltkrieg als das Schlimmste, was man bauen konnte. Heute gelten die Höfe | |
| nicht mehr als Orte der sozialen Verelendung und Dunkelheit, sondern als | |
| grüne Gartenhäuser ohne Abgase und Straßenlärm. Die Mittelschichten kehren | |
| in die Innenstädte zurück. Wenngleich nur dorthin, wo die baulichen und | |
| städtebaulichen Qualitäten stimmen. | |
| Welche Ursachen hat das? | |
| Vor allem die veränderten Lebensformen. Wenn wir alle paar Jahre den Job | |
| wechseln müssen, sollten wir nahe der informellen "Jobbörse" in den | |
| Innenstädten leben. Auch arbeiten wir nicht mehr zwischen 9 und 17 Uhr, | |
| sondern, wenn ein Projekt fertig werden muss, auch bis 22 Uhr und länger. | |
| Und dann wollen wir noch etwas essen, aber zu Hause wartet nicht mehr eine | |
| Frau, die für den Mann kocht. Die Singlegesellschaft als Ausdruck weniger | |
| langfristiger Paarbeziehungen ist gezwungen, sich zwecks Partnerschau | |
| ständig auf der innerstädtischen Bühne zu präsentieren. Dazu kommen die | |
| immer längeren Zeiten der Ausbildung, die eigentlich nie aufhören. | |
| Nur eben nicht für die Ärmeren. | |
| Für den sozialen Zusammenhalt Berlins wird es zum Problem, wenn sich die | |
| Schere zwischen Arm und Reich immer mehr öffnet und sie sich auch räumlich | |
| immer weiter entfernen. Solange die Armen noch in den Innenstädten präsent | |
| sind, gibt es wenigstens einen Diskurs über bessere Lebensverhältnisse für | |
| alle. Sind die Armen erst in die Außenbezirke vertrieben, interessieren | |
| sich selbst die oppositionellen Diskurse wenig für sie. | |
| Was kann die Politik gegen die Verdrängung der Armen tun? | |
| Sie hat das Problem erkannt, aber die Lösungen sind kurzatmig. Selbst | |
| Mietpreisbindungen über 25 Jahre bringen aus stadtentwicklungspolitischer | |
| Sicht wenig. Es bedarf dauerhafter Bindungen für einen Teil des | |
| Wohnungsbestands über den genossenschaftlichen Wohnungsbau hinaus. Es | |
| müssen andere Gebiete attraktiv gemacht werden, die Urbanisierung der | |
| Peripherie ist eine wichtige Aufgabe der Zukunft. Unsere Mittelschichten | |
| haben einen enorm gestiegenen Wohnflächenkonsum. Da er sich innerhalb der | |
| letzten 50 Jahre etwa verdoppelt hat, musste die ganze Stadt noch mal | |
| gebaut werden, nur um die vorhandene Einwohnerzahl zu befriedigen. So | |
| rücken die Armen immer enger zusammen, und die Bessergestellten breiten | |
| sich aus. | |
| Der Konflikt um die Bebauung des Tempelhofer Felds ist die aktuelle Bühne | |
| für stadtpolitische Diskussionen. Wie stehen Sie dazu? | |
| Mich ärgert zunächst, dass es in dieser Frage kein Gedächtnis gibt. Um das | |
| Tempelhofer Feld drehte sich vor dem Ersten Weltkrieg eine riesige Berliner | |
| Diskussion. Der Militärfiskus wollte die Flächen zum maximalen Preis an ein | |
| Konsortium aus Terraingesellschaften, Kommunen und Großbanken veräußern, | |
| damals angeblich der größte Immobiliendeal der Weltgeschichte. Der Teil | |
| westlich vom Platz der Luftbrücke wurde bebaut. Kritisiert wurde damals vor | |
| allem, dass der Staat zum Bau von Mietkasernen nötigt. Dann stoppte der | |
| Krieg alles, danach entstand dahinter die Gartenstadt Tempelhof, das | |
| einzige suburbane Wohnviertel innerhalb des S-Bahn-Rings. Viel öffentliches | |
| Geld wurde hier für die gehobene Mittelschicht ausgegeben. Ein Pyrrhussieg | |
| über das Mietskasernensystem. | |
| Und heute? | |
| Werden wie damals die Verhältnisse schwarz-weiß gemalt. Das erschwert jede | |
| Diskussion. Man muss viel deutlicher fragen: Wem nützt was, wem schadet es? | |
| Bauflächen auszuweisen ist sicher nicht ausreichend, dagegen zu sein aber | |
| auch nicht. Nach 1989 gab es in der Stadt noch den Grundsatz "Ein Drittel | |
| sozialer Wohnungsbau, ein Drittel gefördert, ein Drittel frei finanziert". | |
| Das scheint alles vergessen. Auch Genossenschaften und Baugemeinschaften | |
| könnten hier wichtige Akteure sein. | |
| In Ihrem Buch fordern Sie, neue, sozial verträgliche Antworten auf die neue | |
| Wohnungsfrage zu finden. | |
| Kaum eine Stadt hat so viel Erfahrung mit sozialer Wohnungspolitik wie | |
| Berlin. Hier hat man über hundert Jahre erlebt, was im Namen des Sozialen | |
| gebaut und abgerissen wurde, was langfristig funktioniert, was nicht. Im | |
| Augenblick beginnt wieder eine hektische Diskussion über neuen Wohnungsbau | |
| ohne jede Erinnerung, als hätten wir nur eine Zukunft vor uns und keine | |
| Vergangenheit hinter uns. Es muss eine gesellschaftliche Diskussion darüber | |
| geführt werden, wie Mindeststandards gesichert werden können, wie eine | |
| funktionale Mischung erhalten oder erreicht werden kann. Wir brauchen einen | |
| großen Stock von Wohnungen mit dauerhafter Mietpreisbindung in allen Teilen | |
| der Stadt, damit Berlin möglichst auch sozial durchmischt ist. Wir müssen | |
| akzeptieren, dass es unterschiedliche Lagen und unterschiedliche Wohnungen | |
| gibt, ohne Diskriminierung damit zu verbinden. Das ist eine große | |
| Herausforderung. Aber sonst landen wir wieder bei den gleichartigen | |
| Wohnungen mit vier Geschossen aus den 50er Jahren. Eine egalitäre Bauweise | |
| in einer nicht egalitären Gesellschaft bedeutet soziale Segregation. | |
| Wovon kann Berlin in Zukunft leben? | |
| Zuerst muss man unterscheiden zwischen Möchtegern und Realität. Öko, | |
| kreativ, innovativ sein, das wollen alle. Eine große Rolle spielen in | |
| Berlin sicher der Tourismus, die Wissenschaftseinrichtungen, die auch ein | |
| ökonomischer Faktor sind, und die Gesundheitsindustrie. Dazu kommt die | |
| Bedeutung als Hauptstadt; auch innerhalb der EU wird Berlin immer | |
| wichtiger. Zukunftsträchtig ist das komplexe Feld der neuen Mobilität. | |
| Was sind aktuell die wichtigsten Entwicklungen in Berlin? | |
| Wirklich bedeutend für die Zukunft Berlins finde ich die Weichenstellungen | |
| bei den Großprojekten der Infrastruktur - das sind | |
| Jahrhundertveränderungen. Die Neustrukturierung des Eisenbahnverkehrs - | |
| Neubau von Hauptbahnhof und Südkreuz, Herabstufung von Ostbahnhof und | |
| Bahnhof Zoologischer Garten - ist nahezu abgeschlossen. Eine stadträumliche | |
| Revolution, die Berlin noch nicht angemessen genutzt hat. Jetzt kommt, wann | |
| auch immer, die Neustrukturierung der Flughäfen hinzu. Die bereits erfolgte | |
| Stilllegung von Tempelhof und bald auch die von Tegel wird vieles | |
| verändern. Die Dynamik wird sich nach Süden verschieben, in das Dreieck | |
| zwischen Schönefeld, Mitte und Potsdam. Der bisherige Ost-West-Gegensatz | |
| wird überlagert von einem Nord-Süd-Gegensatz. Man sieht das bereits daran, | |
| dass Neukölln sich stärker verändert als der Wedding. | |
| Das Buch: Harald Bodenschatz, "Städtebau in Berlin. Schreckbild und Vorbild | |
| für Europa". 176 Seiten, DOM publishers | |
| 17 Mar 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Christoph Villinger | |
| ## TAGS | |
| Sozialer Wohnungsbau | |
| Berlin | |
| Mieten | |
| Mietpreisbremse | |
| Subkultur | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Debatte Wohnen: Ein Recht auf den Kiez | |
| Für Leute mit bescheidenem Einkommen muss es mehr Mietwohnungsneubau geben. | |
| Das wirft heikle Gerechtigkeitsfragen auf. | |
| Kommentar zur Einwohnerzahl: Wer ist ein Berliner? | |
| Es wird höchste Zeit für eine Debatte darüber, was Berlin eigentlich sein | |
| will, wie sich die Stadt selbst versteht und wo sie räumlich endet. | |
| Programm gegen teuren Wohnraum: Bau auf, bau auf, bau auf! | |
| In großen Städten fehlt Wohnraum und die Mieten steigen. Bundesministerin | |
| Hendricks (SPD) will dieses Problem durch günstige Neubauten lösen. | |
| Kommentar Mietpreisbremse: Instrument der Volksverdummung | |
| Die Mietexplosion wird durch die Preisbremse nicht verhindert. Denn die | |
| ortsübliche Vergleichsmiete bleibt unangetastet. | |
| Kölner Subkultur gegen Investoren: Auf der falschen Seite | |
| In Köln steht erneut eine Institution der Subkultur vor dem Aus. Das | |
| Gebäude 9 in Deutz soll einem Wohngebiet weichen. Schnell formiert sich | |
| Protest. |