# taz.de -- Die Wahrheit: Gemüse im Zwielicht | |
> Auf dem deutschen TV-Serienmarkt tut sich endlich etwas. Der | |
> Mystery-Thriller „Abgelaufen“ bietet ein unterkühltes Kammerspiel. | |
Bild: Sogar Kühlschränke können Schauplatz für innovatives Fernsehen sein. | |
Schon die Eingangssequenz löst Beklemmung aus. Die Kälte scheint sich | |
direkt auf den Zuschauer zu übertragen, wenn die Kamera in fast | |
unerträglicher Langsamkeit über die Reihen der leblosen Gestalten gleitet, | |
deren Umrisse im Zwielicht zu erkennen sind. | |
Einige von ihnen wirken seltsam verstümmelt, andere wie in Formen gepresst. | |
Endlich beginnt ein grelles Licht zu flackern, lange genug, um einen Blick | |
auf die seltsamen Wesen freizugeben, aber nicht lange genug, um über das | |
Ausmaß der vorangegangenen Katastrophe spekulieren zu können. | |
„Abgelaufen“ ist zeitgenössisches Serienfernsehen made in Germany. Die | |
kleine, aber feine Produktion kombiniert Elemente des Mystery-Thrillers mit | |
dem Alltäglichen. Dazu gesellt sich tiefschwarzer Humor und ätzende Kritik | |
an den Zuständen. Besonders an den hygienischen. | |
Aus dem Off schnarrt eine Männerstimme: „Was gibt’s denn heute zu mampfen?… | |
Man will befreit auflachen, aber der Ausflug in die Komödie bleibt | |
Makulatur. Die Kamera weigert sich zu schwenken, bleibt auf den Inhalt | |
dessen gerichtet, was sich nun als Kühlschrank entpuppt. | |
Schauplatz dieser innovativen Serie ist ein Kühlschrank, wie er in jeder | |
Küche stehen könnte. Und dieses sonderbare Setting ist nicht die einzige | |
Überraschung mit der Jan Sittich und Knut Bröhm aufwarten. Die beiden | |
TV-Macher unterlaufen nicht nur meisterhaft die Erwartungen des Publikums, | |
sie konnten die acht Staffeln „Abgelaufen“ auch mit dem überschaubaren | |
Budget eines Kleinen Fernsehspiels realisieren. Das Duo verzichtet bewusst | |
auf bekannte Namen, sondern setzt auf starke – und vermutlich ebenso stark | |
riechende – Charaktere. | |
## Gemüse wie der selbstbewusste Brokkoli | |
Jan Sittich, der mit seiner runden Brille aussieht wie jemand, der nur | |
sprechen kann, wenn er an seinem Schal herumzuppelt, zuppelt an seinem | |
Schal herum und erklärt: „Wir sind jetzt beide Ende zwanzig und machen seit | |
sechzig Jahren Fernsehen. Aber erst, als wir für das ’Traumschiff‘ | |
gearbeitet haben, wurde uns klar: Vorbilder sind dazu da, dass man sie über | |
Bord wirft.“ Während Sittich selig lächelt, übernimmt Bröhm: „Serien | |
funktionieren hierzulande anders als in Amerika. Natürlich interessiert es | |
auch deutsche Zuschauer, wie ein Gangster-Boss wie Tony Soprano drei | |
Menschen umnieten und abends seelenruhig am Gartengrill sein Steak brutzeln | |
kann. | |
Aber die Deutschen fragen detaillierter, tiefer und nachhaltiger. Sie | |
wollen wissen, wo das Steak herkam, welche Soßen gereicht wurden und vor | |
allem: warum?“ Bröhm lässt das wirken, vor allem auf sich selbst, dann | |
erklärt er: „Was ’Abgelaufen‘ ausmacht, ist die völlig neue Perspektive… | |
alltägliche Dinge. Auf der einen Seite sind die sogenannten ’Abgepackten‘, | |
denen das Mindesthaltbarkeitsdatum wie ein Todesstempel aufgedrückt wurde. | |
Sie hegen ein sehr inniges Verhältnis zu ihrem Gott Manfred und wünschen | |
nichts mehr, als von ihm verzehrt zu werden, denn ein Ende in der Mülltonne | |
wäre die Hölle. Das sehen wir am Beispiel einer Senftube, die nur | |
mittelscharf ist und ignoriert wird, bis sie sich vom oberen Fach | |
hinunterstürzt. Da geht es auch um den allgegenwärtigen Jugendwahn.“ Bröhm | |
atmet mittelscharf aus. | |
„Andererseits sind da die ’Ursprünglichen‘, Gemüse wie der selbstbewuss… | |
Brokkoli etwa. Die befinden sich klar in der Unterzahl, sind aber in | |
gewisser Hinsicht freier, denn sie verachten Manfred ebenso wie er sie. Und | |
schließlich ist da der Held, der zunächst furchtbar unterkühlt rüberkommt. | |
Aber was will man von einem Flammkuchen nach Elsässer Art erwarten, der vor | |
acht Jahren im Gefrierfach vergessen wurde und seine Gefühle seither unter | |
einem dicken Eispanzer verbirgt. | |
„Trotz unseres kleinen Budgets haben einige sehr bekannte Schauspieler | |
angefragt“, freut sich Sittich. „Aber letztendlich hat nur die Leistung | |
gezählt. Nur weil jemand immer wieder eine wurstlippige Kommissarin | |
gespielt hat, bedeutet das nicht …“ | |
Bröhm unterbricht, das Thema ist ihm unangenehm. „Na ja, der Ekel sollte | |
möglichst subtil bleiben. Außerdem: Wer könnte einen jungen Gouda besser | |
spielen als ein junger Gouda?“ Die Antwort darauf kommt von Sittich: „Ein | |
mittelalter vielleicht,“ kräht er. | |
„Abgelaufen“, zugleich Psychogramm einer Wegwerfgesellschaft und Studie | |
individueller Vergänglichkeit, ist an vielen Stellen hochkomisch, doch | |
werden die Zuschauer stets daran erinnert, wie ausweglos die Situation für | |
die Charaktere ist. Die Liebe ist hier nur ein chemischer Prozess, der sich | |
in der Verästelung von Eiskristallen zeigt, und die Insassen bleiben den | |
Launen des teilnahmslosen Gottes ausgeliefert. Manfred wird im Eisfach | |
allerdings einen ebenbürtigen Widersacher finden, dem er sich beim finalen | |
Abtauen zu stellen hat. „Bei den Dialogen war es uns wichtig, sie | |
realistisch zu halten“, sagt Bröhm zum Abschluss. „Sie finden nicht statt.… | |
23 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Katinka Buddenkotte | |
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