Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Exil-Afghanen in Berlin: Keine einfache Wahl
> „Wie kann man solche Leute kandidieren lassen?“, fragt Farid Ahmad. Der
> Afghane hat sie erlebt: Einstige Warlords, die nun Präsident werden
> möchten.
Bild: Unruhe und Unsicherheit vor der Wahl in Afghanistan.
Als Farid Ahmad* an der Haustür seiner Mutter klingelt, fällt sie vor ihm
auf die Knie und küsst seine Schuhe. Drei Tage lang hatte er sich im Haus
seines Cousins verkrochen, während um ihn herum Bomben explodierten und
Schüsse fielen. Aufständische hatten im Dezember 1993 die Altstadt von
Kabul besetzt. Farid Ahmad aß gerade bei der Familie seines Cousins zu
Abend.
Ein dumpfes dumm, bzzzwzzwzzz, den Lärm der Raketen ist Farid Ahmad
gewöhnt, doch an jenem Abend krachen sie immer lauter. Als er am nächsten
Morgen vor die Tür tritt, sieht er zerstörte Häuser, Männer mit
Kalaschnikows laufen durch die Straße, alle tragen ein blaues Band um den
Arm.
Beruhigt euch und geht wieder ins Haus, sagt einer zu ihm und seinem
Cousin, wir bringen islamische Gerechtigkeit. Hinter ihm schreit ein Kind,
Blut fließt aus seinem Arm, Hilfe mein Sohn!, brüllt der Mann daneben und
schlägt sich mit beiden Händen ins Gesicht. Es riecht nach toten Menschen.
Auf der Bergkette am Horizont: Panzer und Raketen, die auf die Altstadt
zielen.
Das liegt jetzt gut 20 Jahre zurück. Heute lebt Farid Ahmad, inzwischen ist
er 38 Jahre alt, in Berlin. Im Jahr 2002, nach einem Ingenieursstudium in
der Türkei, kam er nach Deutschland, weil seine Familie hierher geflohen
war. Viele seiner Verwandten leben immer noch in Afghanistan. Am 5. April
wählen sie einen neuen Präsidenten. Farid Ahmad beobachtet den Wahlkampf
von hier aus und bemerkt: Einige Gesichter kommen ihm bekannt vor.
## Noch heute die zweitgrößte Aufstandsbewegung
Die Rebellen, die damals die Altstadt besetzten, gehörten der
islamistischen Partei Hisb-i-Islami an. Sie ist heute die stärkste
Aufstandsbewegung in Afghanistan nach den Taliban, hat sich noch zu
Anschlägen in diesem Frühjahr bekannt. Zugleich verfügt sie über einen
legalen Flügel, der mit Qutbuddin Helal einen der aktuellen
Präsidentschaftskandidaten stellt.
Drei Tage und Nächte hat Farid Ahmad damals Todesangst, bis die Panzer der
Regierung in die Altstadt einrollen und die Aufständischen vertreiben.
Hunderte von Menschen bezahlen den Putschversuch mit ihrem Leben. „Die
Verantwortlichen sind Verbrecher“, sagt Farid Ahmad heute.
An diesem Abend leuchtet der Himmel über Berlin feuerrot, Drachen tanzen
über dem Tempelhofer Feld. Wenn Farid Ahmad erzählt, wie er einst die
Schnur seines Drachens mit Pulver aus Glasscherben und Klebreis
präparierte, um die Schnüre der anderen Drachenflieger zu schneiden,
erkennt man in ihm den kleinen Jungen. Er ist nicht besonders groß, aber
stark. Einer, der Bier für alle mit in die WG bringt und so routiniert von
dem Putschversuch erzählt, als hätte ihn ein anderer erlebt.
## Entschuldigung bei Facebook
Was bedeuten diese Gewalttaten für die Wähler heute? Man muss sich das so
vorstellen: Da liegt vor einem der Wahlzettel und darauf steht der Name des
Mannes, dessen Truppe schon mal deine Familie, dein Viertel indirekt in
Geiselhaft genommen oder gar den Vater ermordet hat.
„Wie kann man nur so jemanden wie Raschid Dostum als Vizepräsident
kandidieren lassen?“, fragt Farid Ahmad. Der Milizenführer ist an dem
Putschversuch vor 20 Jahren beteiligt gewesen, unter seinem Kommando sollen
Tausende Menschen vertrieben, misshandelt, ermordet worden sein. Dostum hat
sich zwar vor der Kandidatur auf seiner Facebookseite für seine Gräueltaten
entschuldigt, doch sowohl er wie auch der Kandidat der Hisb-i-Islami sind
keine Ausnahme.
Nader Naderi, der prominenteste afghanische Menschenrechtler, macht neun
der ursprünglich elf Präsidentschaftskandidaten mit ihren Stellvertretern
für Massaker an der eigenen Bevölkerung verantwortlich. Abdul Rab Rassul
Sajjaf etwa bildete in den 1980er Jahren nicht-afghanische Dschihadkämpfer
aus, darunter Osama Bin Laden. 1993 ermordeten seine Truppen Tausende
Menschen, die dem Volksstamm der Hasara angehörten, so ein Bericht der
Afghanischen Menschenrechtskommission von 2012.
## Niemals die Kontrolle abgeben
Wenn Farid Ahmad den Namen Sajjaf hört, dann denkt er an die blinden
Raketen, die jeden Tag auf Kabul niederprasselten. Angesichts ihrer
Reichweite können sie nur aus Paghman, etwa 20 Kilometer westlich von Kabul
abgeschossen worden sein, erklärt Farid Ahmad – die Stadt befand sich
damals unter der Kontrolle von Sajjaf. Zwar hat der sich nie zu den Raketen
bekannt, „aber es war klar, dass das seine Art und Weise war, Druck auf die
Regierung auszuüben“, meint Farid Ahmad.
Dumm, bzzzwzzzwzz, irgendwann reagierst du nicht mehr darauf, sagt er. Er
hörte sie kommen, die Raketen, beim Wasserholen, beim Fußballspielen. Aber
er spielte einfach weiter, hat sich nicht einmal umgedreht. „Irgendwann
überlässt du dich ganz deinem Schicksal“, sagt er. „Und wenn du die
Kontrolle über dein Leben abgibst“, fügt er hinzu, „dann wirst du
leichtsinnig.“
Einen Monat nach dem Putschversuch kehrte er mit seinem Cousin zu dessen
Haus zurück, um nachzusehen, was übrig geblieben war. Es war ein grauer
Herbsttag, erinnert sich Farid Ahmad. Mit Plastiktüten in der Hand irrt er
mit seinem Cousin durch die halb zerstörte Altstadt. Da verstellt ihnen ein
Aufständischer den Weg, lädt die Kalaschnikow, zielt auf Farid Ahmads
Brust. „Wo wart ihr die ganze Zeit“, brüllt er, dieses vernarbte Gesicht,
Farid Ahmad sieht es heute noch vor sich. Er starrt auf das Projektil. 30
Sekunden. 50 Sekunden. Er weiß nicht wie lange, für ihn steht die Zeit
still, er hat sich bereits aufgegeben.
Der Bewaffnete blickt zur Seite, zieht eine Pistole aus dem Gürtel, drückt
ab, Farid Ahmad denkt: Jetzt bin ich tot. „Bringt ihn weg zur Allee“,
schreit ihn der Aufständische an. Da bemerkt er, dass nicht er erschossen
wurde, sondern ein Mann, der hinter ihm vorbeigelaufen war. Der trug eine
Militärjacke, erinnert sich Farid Ahmad, wie sie die Regierungstruppen
trugen. Der Mann mit der Kalaschnikow habe ihn wohl für seinen Gegner
gehalten und deshalb auf ihn geschossen. Farid Ahmad und sein Cousin
schleppen die Leiche weg und fliehen. Die nächsten vier Tage liegt er mit
Fieber im Bett.
## Stets eine Handgranate bereit
„Man kann sich nicht vorstellen, wie sich das anfühlt, wenn jemand mit
einer geladenen Waffe auf dich zielt“, sagt er. Nach diesem Vorfall trug er
immer zwei Handgranaten bei sich. Solche, die mehr Rauch produzieren als
Splitter, sagt er, jetzt muss er lachen und schüttelt den Kopf. „Ich hatte
sie immer in der Jackentasche, und wenn mir langweilig war, hab ich damit
gespielt.“ Dann wird er wieder ernst. „Mit dem Bomben hab ich mich so stark
gefühlt“, sagt er. „Wie muss sich erst jemand fühlen mit einer
Kalaschnikow?“
Die Geschichte von Farid Ahmad ist nicht außergewöhnlich für einen Mann,
der in Afghanistan aufgewachsen ist. Doch sie zeigt, wie gegenwärtig die
erlebte Gewalt bei den Menschen heute noch ist, Verbrechen, für die ein
Teil der Kandidaten verantwortlich zeichnet. Kurz bevor Farid Ahmad in die
Türkei ging, besuchten UN-Mitarbeiter seine Klasse, um zu erfahren, wer
bisher Bruder, Schwester, Vater oder Mutter verloren hat, 15 von 20 Kindern
hoben die Hand.
Doch nicht nur Waffen töten, sagt er. „Auch die Angst, das Misstrauen.“
Jetzt kommen ihm die Tränen, er blickt zu Boden. Da willst du nur zum
Supermarkt gehen, verabschiedest dich von deinem Vater und da ist er, sagt
er, dieser ängstliche Blick in seinen Augen! Und auf einmal kriegst du
selbst Angst, weißt nicht, ob du deinen Vater je wiedersiehst, ob du je
wieder nach Hause kommst.
## Neue Sicherheitslücken
Auf YouTube verfolgt Farid Ahmad die Auftritte der
Präsidentschaftskandidaten. Er würde keinen von ihnen wählen. „Niemand
setzt sich für das Land ein“, sagt er. „Die wollen doch nur die Macht.“
Dostum etwa, der zwar nicht lesen, aber schießen kann, sagt in einem Video,
man könne nicht alles mit Gesprächen regeln. Aber er habe keine Angst, er
könne sich mit allen Generälen messen.
Farid Ahmad fürchtet das Ende der internationalen Isaf-Mission. Der
bewaffnete Krieg werde dann wieder zwischen Afghanen ausgetragen, glaubt
er. Noch nie zählte die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in
Afghanistan so viele zivile Opfer wie im Jahr 2013: Fast 3.000 Menschen
starben gewaltsam, über 5.500 Menschen wurden verletzt. Nur drei Prozent
dieser Opfer gingen auf das Konto der internationalen Truppen. Durch den
Rückzug der Truppen seien Sicherheitslücken entstanden, heißt es in dem
UN-Bericht, ein Machtvakuum, das die Taliban und die Milizen der Warlords
jetzt zurückerobern.
Dass es eine Nachfolgemission der Isaf gibt, ist zwar wahrscheinlich, aber
noch nicht sicher. Doch so wichtig sei das für die Wähler sowieso nicht,
sagt Farid Ahmad: „Viele Menschen unterstützen den Kandidaten, der ihre
Volksgruppe vertritt.“
Farid Ahmad ist schon zu lange weg aus Afghanistan, er mag seine Identität
nicht am Familienclan oder an der Religion festmachen. „Ich bin Afghane“,
sagt er. „Nicht Paschtune, Tadschike, Usbeke oder Hasara.“ Gerne würde er
in sein Heimatland zurückkehren, um im Auftrag einer
Entwicklungshilfeorganisation Häuser zu bauen. Er hat die Auswirkungen von
Erdbeben auf Gebäude studiert, er kennt die Kälte des afghanischen Winters
und die Hitze im Sommer und weiß, welche Materialien den extremen
Temperaturschwankungen standhalten. Auf dem Dachboden seiner Wohnung
sammelt er Klamotten, ordentlich in Tüten verpackt. Die will er mitbringen,
wenn er seine Heimat besucht.
* Name geändert
5 Apr 2014
## AUTOREN
Julia Maria Amberger
## TAGS
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Schwerpunkt Afghanistan
Hamid Karsai
Hamid Karsai
Schwerpunkt Afghanistan
BMZ
Schwerpunkt Afghanistan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Afghanischer Fußball-Nationalcoach: „Ich will für Afghanistan begeistern“
Slaven Skeledzic erklärt, wie er vom Trainer des FSV Frankfurt zum
afghanischen Nationalcoach aufgestiegen ist und welche Dimension dieser
Wechsel hat.
Afghanistan sucht neuen Präsidenten: Zweiter Wahlgang wird notwendig
Abdullah Abdullah verfehlt nach vorläufigem Endergebnis mit 44,9 Prozent
die nötige absolute Mehrheit. Jetzt muss er in die Stichwahl gegen Aschraf
Ghani.
Kommentar Wahl in Afghanistan: Verlierer sind die Taliban
Auch wenn das Wahlergebnis noch nicht feststeht: Die Afghanen haben sich
von den Taliban nicht einschüchtern lassen.
Präsidentenwahl in Afghanistan: Freude und Erleichterung
Die Wahlbeteiligung in Afghanistan übertrifft alle Erwartungen, Schätzungen
sprechen von 60 Prozent. Befürchtete Anschläge bleiben aus.
Präsidentenwahlen in Afghanistan: Lange Schlangen, wenig Tote
Eine hohen Beteiligung und viel weniger Anschlägen als befürchtet, aber
auch organisatorische Engpässe – das ist die erste Bilanz der afghanischen
Wahl.
Präsidentschaftswahl in Afghanistan: Nach Karsai ist mit Karsai
Die Präsidentschaft Hamid Karsais geht zu Ende, aber nicht die Ära des
umsichtigen Taktikers und Netzwerkers. Schon ist die Rede vom
Putin-Medwedjew-Modell.
Wahl in Afghanistan: Der Prinz von Kandahar
Salmai Rassul entstammt der Königsfamilie von Afghanistan und war lange
Außenminister. Jetzt will er selbst Präsident werden.
Wahlkampf in Afghanistan: Stimmungsmache mit Gerüchten
Der Präsidentschaftswahlkampf geht in die heiße Phase. Und so kursieren
über manche Spitzenkandidaten die abstrusesten Gerüchte.
Kommentar Entwicklung Afghanistan: PR für Zweckoptimismus
Die Pläne des Ministeriums für Entwicklung und Zusammenarbeit sind vage.
Was nach dem Nato-Abzug kommt, bleibt offen.
Afghanische Bundeswehrhelfer: Feind im eigenen Land
Drei Jahre arbeitet Rahim Nagibulla für die Bundeswehr. Er wird von den
Taliban als Verräter beschimpft. Und er bekommt Asyl.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.