Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kommentar Demokratie in der EU: Zu viel der Freundschaft
> Man kann die EU durchaus für eine gute Idee halten, ohne den
> Nationalstaat aufgeben zu wollen. Über die Grenzen der Integration muss
> gesprochen werden.
Bild: Spielende Bundeswehrsoldaten: Garanten der Nationalstaatlichkeit.
Das ist gerade noch mal gut gegangen. Mit seiner Entscheidung, die
EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung für unwirksam zu erklären, hat
der Europäische Gerichtshof eine Brandmauer für den Schutz der Grundrechte
gezogen. Wenn das nicht eindeutig ein unwiderlegbares Argument für die
Stärkung europäischer Institutionen und die Fortschreibung der europäischen
Integration ist! Erhebt sich noch Widerspruch?
Ja, durchaus. Das Urteil – so erfreulich es für alle Bürgerrechtler ist –
wirft ein Schlaglicht auf die Erosion der Demokratie in der Europäischen
Union. Das ist nicht die Schuld der Richter. Sie haben ihren Job gemacht,
und sie können nichts dafür, dass es immer häufiger Gerichte sind, die
politische Grundsatzentscheidungen treffen. Und nicht Abgeordnete. Obwohl
das System der parlamentarischen Demokratie so eigentlich nicht gedacht
ist.
Schon lange ging es bei der Vorratsdatenspeicherung nicht mehr überwiegend
um das Pro und Contra, sondern um äußerst komplexe juristische Abwägungen
und Zuständigkeiten. Darunter übrigens auch um die Frage nach dem
Stellenwert der deutschen Verfassung im Gefüge der Europäischen Union. In
den Feinheiten ist das Thema nur noch für Fachleute verständlich, obwohl es
im Kern buchstäblich alle angeht. Warum sind eigentlich so viele Politiker
überrascht, dass sich große Teile der Bevölkerung von der Politik angeödet
abwenden?
Wenn ein Fachstudium und mehrere Praktika erforderlich sind, um innerhalb
eines demokratischen Systems eine politische Grundsatzfrage kompetent
erörtern zu können, dann braucht man sich über eine schlecht gelaunte
Öffentlichkeit nicht zu wundern. Demokratie drückt sich nämlich nicht nur
durch das allgemeine Wahlrecht aus. Sondern auch darin, dass man mit der
eigenen Meinung ernst genommen wird und werden muss.
Innerhalb der EU ist das in immer geringerem Maße der Fall. Die
Konstruktion der Gemeinschaft bedeutet: Regierungen sind bei gemeinsamen
Entscheidungen keinerlei Kontrolle mehr unterworfen – außer einer
juristischen –, wenn sie sich denn einig sind.
## Ein Problem der Repräsentation
Selbst wenn durch Reformen die Stellung des Europäischen Parlaments
gestärkt würde, dann bliebe das Problem der Repräsentation: Naturgemäß
sinkt die Bedeutung der Wählerin oder des Wählers, je größer die Zahl
derjenigen ist, die durch einzelne Abgeordnete vertreten werden. Und
selbstverständlich repräsentieren einzelne Abgeordnete im Europaparlament
umso mehr Bürger, je größer die EU ist. Es sei denn, man wünscht ein
Mammutgremium von mehreren tausend Parlamentariern zu etablieren.
Eine absurde Idee. Wie ja so manches innerhalb der EU ziemlich absurd ist.
Geredet wird über derartige Probleme allerdings selten. Beleidigungen
scheinen zu genügen.
Es hat sich eingebürgert, jede grundsätzliche Skepsis gegenüber einer
weiteren Vertiefung der europäischen Integration mit dem Diktum
„europafeindlich“ zu belegen und die Skeptiker darauf hinzuweisen, dass die
EU den Frieden innerhalb Europas sichere. Wenn das Wort „Frieden“ fällt,
dann wird übrigens immer sofort von „Europa“ gesprochen. Der
technokratische Begriff „EU“ kommt nicht mehr vor – und der in diesem
Zusammenhang nicht ganz unwichtige Begriff „Mitgliedsländer“ schon gar
nicht.
Selbst bei einem komplizierten wirtschaftspolitischen Thema lässt sich das
große Streichorchester einsetzen, wenn es um Europa geht. Der damalige
Bundeskanzler Helmut Kohl sagte 1997 im Bundestag zur Einführung des Euro,
das sei „eine historische Chance. Und wer das nicht begreift, dem ist
sowieso nicht zu helfen.“ Der SPD-Politiker Rudolf Scharping nannte die
neue Währung „unverzichtbar für die dauerhafte Sicherung von Frieden“.
Helmut Lippelt von den Grünen erklärte: „Den Terminplan infrage zu stellen,
bedeutet die europäische Katastrophe.“ Derartige Sätze beenden jede
Diskussion.
In den 90er Jahren war es nicht möglich, die Einführung des Euro und die
Osterweiterung der Europäischen Union zu kritisieren, ohne in den Verdacht
zu geraten, nationalistisch zu sein. Heute verhält es sich ähnlich im
Hinblick auf den – axiomatisch gesetzten – Wunsch, Europa möge mit „einer
Stimme“ sprechen und auch sicherheitspolitisch eine Einheit bilden.
## Die Bedeutung der Armee
Als ob es innerhalb der EU keine Interessengegensätze gäbe und geben dürfe.
Was für ein Unsinn. Die Idee einer europäischen Armee mit gemeinsamem
Oberkommando würde schon daran scheitern, dass niemals in der Geschichte
eine Atommacht bereit gewesen ist, anderen ein Mitspracherecht über die
eigenen Waffen einzuräumen. Da endet jede Freundschaft.
Eine gemeinsame europäische Armee würde übrigens auch – faktisch,
wenngleich vielleicht nicht juristisch – das Ende des Rechts jeder
nationalstaatlichen Regierung bedeuten, über Krieg und Frieden entscheiden
zu dürfen. Die Finanzkrise innerhalb des Euroraums hat bereits deutlich
gemacht, wie weit das Haushaltsrecht – angeblich das „Königsrecht“ des
Parlaments – ausgehöhlt worden ist.
Wenn der Bundestag weder souverän über den eigenen Haushalt noch über Krieg
und Frieden entscheiden dürfte: Wen wählen wir eigentlich noch, wenn wir
zur Bundestagswahl gehen? Welche Kompetenzen haben unsere Abgeordneten?
Nun kann man die EU durchaus für eine gute Idee halten, ohne den
Nationalstaat aufgeben zu wollen. So, wie man mit jemandem sehr gut
befreundet sein kann, ohne deshalb mit ihm oder ihr zusammenziehen zu
wollen. Weil man nämlich weiß, dass allzu große Nähe einer Freundschaft
durchaus nicht immer guttun muss. Sie kann dadurch auch zerstört werden.
Aber es ist kaum je seriös darüber diskutiert worden, ob die europäische
Integration nicht auch Grenzen haben muss. Alle Fachleute wussten, dass
dringend besprochen werden sollte, ob man der Frage „Vertiefung“ oder
„Erweiterung“ höhere Priorität einräumen sollte. Aber man hat diese Frage
nicht erörtert, sondern liegen lassen. In der Hoffnung, dass sich das schon
irgendwie von selbst regeln werde.
Es hat sich ja auch geregelt. Und zwar so: Im Hinblick auf Sozialleistungen
findet seit vielen Jahren ein Wettbewerb um Harmonisierung nach unten
statt. Soll heißen: Je weniger Leute verdienen und je schlechter sie sozial
abgesichert sind, desto besser für „Europa“. Oder so.
Hinzu kommt: Jedes bürokratische System hat die Tendenz, sich krakenartig
auszuweiten – schon um die eigene Existenzberechtigung nachzuweisen. Was zu
immer neuen Verordnungen führt, die oft dem gesunden Menschenverstand
widersprechen.
## In der Praxis nicht ganz so wunderbar
Ein Beispiel: die Pflicht zur europaweiten Ausschreibung von kommunalen
Bauvorhaben. Eine wunderbare Idee. Theoretisch. In der Praxis dann
allerdings nicht ganz so wunderbar. Firmen im fernen Portugal oder sonst wo
hatten längst Insolvenz angemeldet, wenn deutsche Gemeinden feststellten,
dass Nachbesserung erforderlich war. Die Idee einer regionalen
Strukturförderung, die einst mit öffentlichen Aufträgen verbunden war,
hatte sich ohnehin erledigt. Und dann? Dann wurden halt – seufzend –
Steuermittel zur Behebung von Schäden eingesetzt.
So wirbt man nicht für ein Produkt oder eine Idee, auch nicht für Europa.
Der Versuch, jede offene Auseinandersetzung zu unterdrücken, wirkt im
Regelfall kontraproduktiv. Aber vielleicht ist es ja noch nicht zu spät.
12 Apr 2014
## AUTOREN
Bettina Gaus
## TAGS
Europa
EU
Armee
Ukraine
Vorratsdatenspeicherung
Integrationsbeauftragte
EU
Eurokrise
Indien
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kolumne Macht: Hoppla, ein Krieg
Weltmächte sichern ihre Einflusszonen. Es geht um Interessen. Wenn man dies
in eine Glaubensfrage ummünzt, endet es meist blutig.
Kein Vorstoß bei Vorratsdatenspeicherung: Lieber erst mal ignorieren
Das EU-Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung ist nach einem Urteil des
Europäischen Gerichtshofs hinfällig. Die Koalition will daher auf dem
Gebiet auch erst mal nichts tun.
Idee der Integrationsbeauftragten: Kommunalwahlrecht für alle
Wer nicht aus der EU kommt, darf in Deutschland nichts mitbestimmen,
kritisiert die Integrationsbeauftrage Aydan Özoguz. Sie würde das auf
kommunaler Ebene ändern.
Suche nach Identität: Kann Europa Heimat sein?
Wer EU liest, denkt an ein Bürokratieungetüm in Brüssel. Aber verkörpert
die Idee vom gemeinsamen Europa nicht auch viel Gutes?
Eurokolumne: Die Ebbe und die Niedrig-Inflation
Was wenig Geldentwertung und wenig Wasser gemein haben. Und warum sich so
an der Flaute in Euroland wenig ändern wird.
Parlamentswahl in Indien: Hackbarer Volkswille
Zum dritten Mal stimmen die Inder ausschließlich mit Wahlcomputern über ihr
Parlament ab. Die Geräte sind jedoch sehr einfach zu manipulieren.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.