# taz.de -- Sportjubilarin Gretel Bergmann: Die Alibi-Jüdin | |
> Als Feigenblatt wurde die deutsche Hochspringerin Gretel Bergmann 1936 | |
> für die Olympischen Spiele nominiert. Antreten ließ man sie nicht. | |
Bild: Wurde 1936 zum Spielball der Weltpolitik: die heute hundetjährige Gretel… | |
NEW YORK taz | Gretel Bergmann, die mittlerweile Gretel Lambert heißt, ist | |
das alles ein bisschen zu viel. Und das nicht nur, weil sie 100 Jahre alt | |
wird an diesem Samstag. Die ständigen Anrufe von Honoratioren und Reportern | |
und die ganzen Besuche in ihrem etwas windschiefen Wohnhaus im | |
kleinbürgerlichen Wohnviertel Jamaica Estates im New Yorker Bezirk Queens | |
strengen sie an. „Ich freue mich natürlich“, sagt sie diplomatisch in ihrem | |
Mix aus schwäbischer Intonation und New Yorker Dialekt, „aber ich bin auch | |
froh, wenn es wieder vorbei ist.“ | |
So viel Aufhebens um ihre Person, das hat sie vor fünf Jahren schon einmal | |
erlebt, und sie hat sich schon damals nicht so richtig wohl damit gefühlt. | |
Damals lief „Berlin ’36“, der Spielfilm mit ihrer Lebensgeschichte, in | |
Kinos auf der ganzen Welt, und auf einmal wollte jeder mit ihr sprechen. 65 | |
Jahre lang hatte sie vorher in völliger Anonymität in New York gemeinsam | |
mit ihrem Mann Bruno gelebt. „Die Frauen in meinem Kegelklub sind aus allen | |
Wolken gefallen, als sie mitbekommen haben, wer ich bin. Sie hatten keine | |
Ahnung.“ | |
Gretel Lambert hatte nie ihre Geschichte erzählt, sie fand sich nie | |
sonderlich interessant oder wichtig. Aber sie kann mittlerweile | |
nachvollziehen, dass ihre Vergangenheit die Menschen in ihren Bann schlägt, | |
weil sie so viel über das Jahrhundert sagt, das sie erlebt hat. „Berlin | |
’36“, das sind der Ort und das Jahr, die das Leben von Gretel Lambert in | |
zwei teilen. Es markiert für sie ewig den Moment, an dem die große | |
Weltpolitik sie zum Spielball machte. | |
Genau genommen begann die Geschichte, die der Film erzählt, für Gretel | |
Bergmann bereits im Jahr 1934. Damals besuchte die Tochter eines jüdischen | |
Fabrikanten aus der schwäbischen Kleinstadt Laupheim eine Sportakademie in | |
England. Man hatte der talentierten Leichtathletin dazu geraten. So lange | |
bis der Nazispuk vorbei sei, wie es hieß. Doch dann stand plötzlich eines | |
Tages ihr Vater völlig außer sich vor der Tür. Man habe ihm gesagt, sie | |
müsse nach Hause kommen, sonst passiere etwas Schlimmes. „Ich habe sofort | |
meine Sachen gepackt, ich hatte ja keine Wahl.“ | |
## Kuhhandel zwischen Nazis und Amerikanern | |
Gretel Bergmann sollte eine von drei Alibi-Jüdinnen in der deutschen | |
Olympiamannschaft sein, zusammen mit den Halbjuden Helene Mayer und Rudi | |
Ball. Ihre Berufung in die Kernmannschaft sollte den Boykott der USA | |
verhindern. Den Kuhhandel zwischen den Nazis und den Amerikanern fädelte | |
der damalige IOC-Präsident Avery Brundage ein, derselbe, der 1972 in | |
München nach dem Attentat auf die israelischen Sportler verkündete: „The | |
Games must go on.“ Einen abscheulichen Menschen nennt Gretel Bergmann | |
Brundage heute noch immer. | |
Bergmann ging nach Stuttgart und bereitete sich dort artig auf die Spiele | |
vor, wohlwissend, dass es zu einem Start ja doch nie kommen würde. Ein | |
jüdisches Mädchen vor 100.000 Zuschauern, womöglich eine Siegerehrung, „bei | |
der Hitler mir hätte gratulieren müssen“? Das wäre nie passiert. „That | |
wouldn’t fly“, sagt sie. Bis heute weigert sie sich, Deutsch zu sprechen. | |
Sie könnte das auch gar nicht mehr, behauptet sie. | |
Nach ihrer Nominierung lebte sie in ständiger Sorge darum, wie die Nazis | |
sie wohl stoppen würden, sie rechnete mit dem Schlimmsten. Doch es ging | |
schließlich glimpflich ab. Am 16. Juli 1936 bekam Gretel Bergmann einen | |
Brief aus Berlin, dass ihre Leistungen eine Nominierung für die olympischen | |
Wettbewerbe nicht rechtfertigen würden. Und das, obwohl sie den letzten | |
Wettbewerb mit einem Vorsprung von 20 Zentimetern vor der Zweitplatzierten | |
gewonnen hatte. Einen Tag zuvor, am 15. Juli, hatten die US-Athleten in New | |
York den Dampfer nach Deutschland bestiegen. | |
Von den Spielen selbst bekam Gretel Bergmann dann nichts mehr mit. Sie weiß | |
nicht einmal mehr genau, wo sie sich während der Zeit aufgehalten hat. „Ich | |
glaube, ich bin nach Baden-Baden gefahren. Ich wollte nur weg von allem“, | |
sagt sie. Ihr geliebter Sport, von den Nazis so übel missbraucht, war ihr | |
egal, sie wollte nur noch so schnell als möglich raus aus Deutschland. | |
Kurze Zeit später war sie unterwegs nach New York. | |
## Eine Verbundenheit gab es nicht | |
Hier endet das Leinwanddrama, an dem Gretel Lambert allerlei | |
Ungenauigkeiten auszusetzen hat. Etwa, dass sie ein freundschaftliches | |
Verhältnis mit Dora Ratjen gehabt habe, der Hochspringerin, welche die | |
Nazis aufgeboten hatten, um im Zweifel einen Sieg von Bergmann zu | |
verhindern. | |
Ratjen war, wie sich zwei Jahre später herausstellte, ein Mann. Eine | |
Verbundenheit der beiden, wie der Film sie konstruierte, auf der Erkenntnis | |
fußend, dass beide von den Nazis missbraucht worden seien, hätte es jedoch | |
nicht gegeben. „Wir hatten ein ganz normales sportliches Verhältnis – nicht | |
mehr, nicht weniger“, sagt Gretel Lambert heute. | |
Als sie in New York ankam, war sie gerade einmal 24. Doch sie war voller | |
Bitterkeit. Die Welt ihrer Kindheit und Jugend, die sie als heil und | |
glücklich empfunden hatte, obwohl sie drei Monate vor dem Ausbruch des | |
Ersten Weltkriegs auf die Welt gekommen ist, war unwiederbringlich | |
verschwunden. Die Welt, in der die behütete Industriellentochter nach | |
Herzenslust im Sportverein in Laupheim laufen und springen und Fußball | |
spielen konnte und sie für alle nur die Gretel war, und nicht die Jüdin | |
Bergmann. Religion habe in ihrem Haus keine Rolle gespielt, sagt sie, sie | |
sei sogar mit ihrer besten Freundin in den katholischen Gottesdienst | |
gegangen, weil sie eben alles zusammen gemacht hätten. | |
Doch dann war auf einmal alles anders. Ihre Sportkarriere war jäh | |
abgebrochen, sie musste sich in New York mit Gelegenheitsjobs | |
durchschlagen. Zeit zum Training hatte sie kaum mehr und es mangelte oft am | |
U-Bahn-Geld zum Stadion in der Bronx. Sie hat geputzt und gewaschen und | |
später als Krankengymnastin reiche Ladys von der Upper East Side betreut. | |
Und eine Zeit lang musste sie mit der Unsicherheit darüber leben, was in | |
Deutschland wohl mit ihren Lieben geschieht. | |
## Aus der Familie überlebte niemand | |
Sie hatte Glück. Ihr Verlobter und späterer Ehemann Bruno, auch ein | |
Sportler, kam 1938 in die USA, 1939 folgten ihre Eltern. Doch die Familie | |
blieb vom Holocaust nicht unberührt. Ihr Vater hatte sechs Wochen im Lager | |
verbracht und litt sein Leben lang an den gesundheitlichen Folgeschäden. | |
Und aus der Familie ihres Mannes, der nach 75 Ehejahren im vergangenen Jahr | |
verstorben ist, überlebte niemand. | |
Diese Schicksale waren für Gretel Bergmann der Grund, warum sie ihren | |
Kegelschwestern nie ihre Geschichte erzählt hat, warum sie überhaupt | |
niemandem ihre Geschichte erzählt hat, bevor 2009 der Film herauskam. „Ich | |
habe eine Olympiamedaille verloren“, sagt sie, „die anderen haben ihr Leben | |
verloren.“ | |
Nicht, dass es nicht an ihr genagt hätte. Noch bei den Olympischen Spielen | |
von London 2012 konnte sie sich nicht den Hochsprungwettbewerb der Frauen | |
anschauen, ohne daran zu denken, was sie verpasst hat. „Ich war 1936 die | |
Beste in der Welt“, sagt sie. 1,60 Meter war damals ihr Rekord. In Berlin, | |
da ist sie sich sicher, wäre sie höher gesprungen: „Ich hatte so viel Wut | |
im Bauch, ich wäre mindestens 1,70 gesprungen.“ | |
Nun, mit beinahe 100 Jahren, ist die Wut abgeebbt. Der Film hat dabei | |
geholfen, „Es hat gut getan, dass meine Geschichte bekannt wurde.“ Es hat | |
Entschuldigungen vom IOC und vom deutschen NOK gegeben und Einladungen nach | |
Deutschland. Und der Deutsche Leichtathletikverband erkannte dann doch noch | |
2009 ihren deutschen Rekord an, den sie 1936 kurz vor den Olympischen | |
Spielen aufgestellt hatte. | |
## Den eigenen Frieden gefunden | |
„Ich habe gesehen, dass die jungen Deutschen etwas aus all dem gelernt | |
haben. Man war ungeheuer nett zu mir.“ Sogar ein Stadion in Laupheim und | |
eine Schule in Hamburg wurden nach ihr benannt. „Wenn die wüssten, wie | |
schlecht ich in der Schule war, hätten sie das nie gemacht“, sagt sie. | |
Gretel Lambert hat ihren Frieden gefunden, sie kann aber noch zornig | |
werden. Wenn sie etwa auf die jüngsten Kriege zurückblickt. „Die Leute | |
hören einfach nicht auf damit. Das muss doch mal ein Ende haben.“ Oder wenn | |
man sie fragt, ob der Westen die Putin-Spiele von Sotschi hätte | |
boykottieren sollen. „Auf keinen Fall“, kommt es wie aus der Pistole | |
geschossen. „Warum sollen denn immer die Sportler, die so hart gearbeitet | |
haben, die Dummen sein?“ Es reicht, dass sie um ihren Ruhm betrogen wurde. | |
Das soll nie wieder einem Sportler passieren. | |
13 Apr 2014 | |
## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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