# taz.de -- Kulturszene im Irak: Das andere Gesicht Bagdads | |
> Der in Berlin lebende Schriftsteller Najem Wali hat sich zu einer Lesung | |
> in die irakische Hauptstadt gewagt. Ein Reisebericht. | |
Bild: Das Geschäft muss weitergehen | |
Eine Kulturveranstaltung auf einem öffentlichen Platz im Herzen Bagdads mit | |
Hunderten Zuhörern? Wer hätte das gedacht? Bis zum Tag meiner Ankunft | |
zweifelte ich daran, ob das etwas Erfreuliches wird, ob sich die | |
abenteuerlichen Strapazen einer Reise nach Bagdad für eine Literaturlesung | |
lohnen. In den Nachrichten aus dem Irak hört man täglich von explodierenden | |
Autobomben, sodass es nur eine Frage des Glücks, eine Art russisches | |
Roulette zu sein scheint, ob man selber Opfer des Terrorismus wird. Zur | |
falschen Zeit am falschen Ort zu sein, das genügt. | |
Allein in den letzten zwei Jahren haben al-Qaida zugerechnete Gruppen über | |
2.000 blutige Anschläge verübt. Mehr als 6.000 Todesopfer und 20.000 oft | |
sehr schwer verletzte Iraker sind das Resultat. Hunderttausende Menschen | |
sind von der anhaltenden Gewalt traumatisiert, die die Männer von al-Qaida | |
und Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Isis bzw. Isil, Daaisch) | |
ausüben, noch verstärkt seitdem sie 2013/2014 in al-Anbar und Falludscha | |
die Kontrolle übernahmen. Mittlerweile kontrollieren sie auch die Stadt Abu | |
Ghraib, die nur 32 Kilometer von der Stadtgrenze Bagdads entfernt liegt. | |
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele Freunde meine wiederkehrenden | |
Besuche in Bagdad für absolut wahnwitzig halten – „Selbstmord“, wie eine | |
Freundin kommentierte. Wahnwitzig erschien auch die Idee einer großen | |
Lesung dort. Ich habe selber lange gezögert: Ist es vernünftig, wie ich es | |
plante, auf einer Freiluftbühne mitten in Bagdad öffentlich aufzutreten, um | |
aus meinem jüngsten Roman vorzulesen, während neben mir ein Bagdader | |
Musikensemble klassische Musik darbietet? | |
Und mehr noch: war es vernünftig und denkbar, dass neben mir eine blonde | |
Frau sitzen sollte, die Auszüge aus der deutschen Übersetzung des selbigen | |
Romans vorträgt? Konnte man vernünftigerweise davon ausgehen, dass dies | |
ohne Zwischenfälle im wahrsten Sinne des Wortes „über die Bühne gehen“ | |
würde? | |
## Gestern noch Ruine – heute Bühne | |
Bis zu dem Moment, in dem die Lesung am Freitag, den 28. März 2014, | |
tatsächlich begann, hätte ich nie damit gerechnet, dass dabei dann eine | |
regelrecht ausgelassene Stimmung herrschen würde. Bei der Bühne, auf der | |
wir auftraten, handelte es sich im Übrigen eher um ein steinernes Podium, | |
das kürzlich am früheren Standort des Gerichtsgebäudes im Stadtteil | |
al-Kischla am Ufer des Tigris errichtet worden war, an der | |
Al-Mutanabbi-Straße. | |
Das Gerichtsgebäude war nach dem 9. April 2003 ein Opfer der Flammen und | |
damit zu einer der vielen Ruinen entlang der historischen Al-Raschid-Straße | |
geworden. Die Stadtverwaltung von Bagdad hat es allerdings unter der | |
Leitung des sehr engagierten Architekten und Stadtratsmitglieds Abdelkarim | |
al-Muhamdawi zumindest in den Grundzügen instand setzen und die Bühne bauen | |
lassen. | |
Al-Muhamdawi hatte auch alles daran gesetzt, mich auf Einladung des | |
Goethe-Instituts die Bühne einweihen zu lassen. Unsere Veranstaltung sollte | |
den Auftakt darstellen, um andere Veranstalter dazu zu animieren, es uns | |
nachzutun. | |
Die Künstler des Angham-al-Rafidain-Ensemble übernahmen die musikalische | |
Untermalung. Sie spielen in herausragender Weise traditionelle Musik, die | |
im Irak und Iran als „Makam“ bekannt ist. Eine Lesung mit einem | |
Makam-Ensemble – auch das ein Novum in Bagdad. | |
Die blonde Frau war die Berlinerin Hella Mewis, Repräsentantin des | |
Verbindungsbüros des Goethe-Instituts in Bagdad, die alles organisiert | |
hatte. | |
Aber wie ist das möglich? Gibt es am Ende etwa zwei verschiedene Gesichter | |
Bagdads? Einerseits das Bagdad der Autobomben und schallgedämpften | |
Schusswaffen, andererseits das Bagdad der Arbeit und des Frohsinns, des | |
Wissens und des Vergnügens, der Tugendhaftigkeit und der Frivolität, des | |
Lachens und des Weinens, das alles überdauernde Bagdad mit all den | |
Gegensätzen, die das Leben eben ausmachen? Oder war das einfach eine Art | |
isolierte Ästhetik des Widerstands, um Peter Weiss zu zitieren? | |
## Ausgehen ist wieder angesagt | |
Wer Bagdad heute besucht und die eifrige Betriebsamkeit auf den Straßen und | |
Märkten beobachtet, wird nicht glauben, dass dies dieselbe Stadt ist, die | |
immer wieder negativ in den Schlagzeilen von sich reden macht. Allein die | |
Statistik, die das Büro der Vereinten Nationen für den Irak in Bagdad Unami | |
im März veröffentlichte, spricht von 703 Toten und weiteren 381 Verletzten | |
durch Gewalt- und Terrorakte nur im Monat Februar, wobei die Hauptstadt | |
Bagdad besonders betroffen war. | |
Trotzdem: Die Leute, vor allem die jungen, sind es leid, immer nur zu Hause | |
zu hocken. Rausgehen und Umherziehen sind wieder angesagt, und zwar gerade | |
in den Vierteln im Zentrum der Stadt, wo bis vor kurzem noch um vier Uhr | |
nachmittags quasi die Bürgersteige hochgeklappt wurden und die danach wie | |
ausgestorben dalagen. | |
So zum Beispiel in der Saadoun-Straße, die für ihre Hotels, Restaurants, | |
Kneipen und Kinos bekannt ist, und auch an deren Ende, im vornehmen und | |
gleichzeitig einfachen Viertel al-Karradeh. Dort schläft man jetzt erst | |
wenige Minuten vor Mitternacht, wenn die Ausgangssperre einsetzt, manchmal | |
gar noch später, was gerade für die Anwohner gilt. Beispielsweise bleiben | |
im Hotel Bagdad, in dem ich untergekommen war, Bar und Restaurant bis 5 Uhr | |
morgens geöffnet. Und die Nachtclubs in der Umgebung bis hinüber zur | |
Abu-Nuwas-Straße am Tigris sind gerade in den Stunden der Ausgangssperre | |
zwischen Mitternacht und 5 Uhr morgens besonders überlaufen. | |
Diese kleinen Oasen, die sich die Bagdader selbst geschaffen haben, sind | |
durchaus zahlreich. Manche von ihnen florieren nachts, andere am Tage. | |
Die Al-Mutanabbi-Straße, wo unsere Veranstaltung stattfand, ist sozusagen | |
das Bagdader Paradies des Tages, ganz besonders am Freitag. Die Straße ist | |
die älteste Bagdads, hier entstand im 9. Jahrhundert das erste Buch in der | |
Form, wie wir sie heute kennen, und sei es auch in Gestalt einer | |
großformatigen Handschrift. | |
## Straße der Kultur lockt bereits Künstler, Musiker und Familien | |
Die Al-Mutanabbi-Straße, früher auch Straße der Papierhändler genannt, ist | |
der traditionelle Sitz des Buchhandels in Bagdad. Hier wurde auch die erste | |
Universität der Welt, das „Haus der Weisheit“, gegründet. Die Straße, die | |
auch als Straße der Kultur bezeichnet wird, zieht mittlerweile nicht mehr | |
nur Leser und Autoren an, sondern auch ein bunt gemischtes junges Publikum | |
aus Künstlern, Malern und Musikern, die sich zumeist über digitale | |
Netzwerk-Medien wie Facebook zusammenfinden und dann in der | |
Al-Mutanabbi-Straße Spontanaktionen durchführen. Aber auch viele Bagdader | |
Familien kommen insbesondere am Wochenende hierher, um zu flanieren. | |
Eine der jungen Frauen, die ich im Anschluss an unsere Lesung kennen | |
lernte, als sie mich um ein Autogramm in ihrem Exemplar meines Romans | |
„Bagdad Marlboro“ bat, sagte mir: „Danke, dass Sie extra aus Deutschland | |
gekommen sind. Wir brauchen mehr solche Veranstaltungen.“ Ja, ich weiß, | |
dass die Menschen dort diese Solidarität brauchen, und das ist es letztlich | |
auch, was es lohnenswert macht, die Mühen eines riskanten Reiseabenteuers | |
auf sich zu nehmen. | |
Und auch die Freundin der Erstgenannten namens Jamam, ebenfalls Geigerin, | |
die sich wie alle anderen Anwesenden den Gefahren des Weges gestellt hatte | |
und gar aus einem Viertel am Stadtrand hergekommen war, als sie von der | |
Veranstaltung gehört hatte, machte vor mir keinen Hehl aus ihrer | |
Begeisterung für Kunst und Kultur: „Schönheit wird es in Bagdad nicht | |
geben, solange die Angst regiert. Literatur ist ebenso eine ästhetische | |
Ausdrucksform wie Musik. Beide nähren die Seele, durch sie lassen sich das | |
Gute und der Frieden verbreiten.“ Sie sei bereit, sich auch an die | |
gefährlichsten Orte zu begeben, um „durch Musik und Gesang Freude in die | |
Herzen der Menschen zu bringen“. | |
## Zwischen Leben und Tod | |
Auf der einen Seite also Terrorismus, Autobomben und korrupte Machthaber, | |
auf der anderen Seite diese jungen Leute, die sich furchtlos dem Tod | |
stellen. Diese sind es, die das neue Bild Bagdads prägen. Als gäbe es also | |
zwei Gesichter: eine Stadt, in der Terroristen Unschuldige eiskalt | |
abknallen, und eines, wo sich die Stimmen dieser jungen Leute für den | |
Frieden erheben. | |
Dank gebührt hier insbesondere der Berlinerin Hella Mewis, die sich von der | |
schlechten Sicherheitslage in einem Land, das sich an die Gewalt längst | |
gewöhnt hat, nicht hat abhalten lassen, auch nicht davon, mir als Führerin | |
durch die Straßen, Gassen und Märkte „ihr“ heutiges Bagdad zu zeigen. | |
Fremde, die in einer Stadt leben, öffnen einem oft erst richtig die Augen. | |
Sie brachte mich damit dazu, mich nach Jahren des Bruches mit dieser Stadt | |
auszusöhnen. | |
Ich spazierte durch ihre Parks, schlenderte über ihre Straßen, zechte in | |
ihren Kneipen und traf dort Freunde. Ich sah Theaterstücke und Filme. Kurz: | |
es zeigte sich mir das andere Gesicht Bagdads, das ich so viele Jahre | |
vermisst hatte. Dieses Gefühl der Freiheit von Angst, des sorglosen | |
Umherspazierens in der Stadt, als seien wir in Berlin, hätte ich ohne diese | |
mutige Frau ganz sicher nicht erlebt. | |
Man stelle es sich nur einmal vor, zwanzig Frauen aus verschiedenen | |
europäischen Ländern folgten Hella Mewis und veranstalteten | |
unterschiedlichste Aktivitäten in Bagdad. Man male sich nur einmal aus, was | |
das für Veränderungen in der Stadt auslösen würde. Genau so wird es uns in | |
Zukunft sicher nicht mehr schwerfallen, uns eine Kulturveranstaltung im | |
Herzen Bagdads auf einem öffentlichen Platz unter freiem Himmel und vor | |
zahlreichem Publikum vorzustellen. Und so werden wir letztlich auch den | |
Terrorismus kleinbekommen. | |
Aus dem Arabischen von Nicola Abbas | |
27 Apr 2014 | |
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