Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Iraker wählen ein neues Parlament: Das Spiel mit der Angst
> Vor vier Jahren habe ich noch Hoffnung gehabt, sagt eine Frau. „Aber
> unsere Politiker haben das ganze Land als Geisel genommen.“
Bild: Mehr als 200 Listen und entsprechend viele Spitzenkandidaten stehen am Mi…
BAGDAD taz | Irakische Fähnchen schwingend marschiert eine Gruppe von
Mädchen in goldfarbenen Glitzerkleidchen zum Podium. Osama Nujaifi,
Parlamentspräsident und derzeit der wohl einflussreichste sunnitische
Politiker im Irak, hat zu seiner zentralen Wahlkampfrede geladen. Vage
spricht Nujaifi von Reformen, dem Bau von Spitälern und Schulen sowie einer
besseren Zukunft für Iraks Jugend.
Rund 20 Millionen Iraker sind aufgerufen, am 30. April ein neues Parlament
zu wählen. Es ist die dritte Parlamentswahl seit dem Sturz von Saddam
Hussein vor elf Jahren und die erste seit dem Abzug der Amerikaner Ende
2011. Die ganze Hauptstadt ist über und über mit Wahlplakaten
zugepflastert. Männer und Frauen blicken in steifer Pose und mit ernster
Miene auf die Betrachter und versprechen ihnen Verbesserungen: Sicherheit,
Wohlstand, Arbeit. Das bunte Durcheinander von Parteien und Personen zeigt,
wie hart umkämpft die Abstimmung ist. Viel steht auf dem Spiel.
„Im Wahlkampf kommen die Politiker vorbei, machen große Versprechungen und
verteilen Geschenke“, sagt Abu Abdullah. „Aber nach der Wahl vergessen sie
uns wieder.“ Auf eine Krücke gestützt, humpelt er die Treppe in seinem
Wohnblock in Adhamiya herunter.
Mit 45 Jahren sieht der fünffache Vater wie ein Greis aus. Vor ein paar
Monaten hat er seinen Job in einem Restaurant verloren, die Familie bringt
er heute mit den Lebensmittelrationen der Regierung und den Almosen von
Nachbarn durch. Egal wen man wähle, am Ende seien alle Politiker gleich
korrupt, sagt Abu Abdullah.
## Leere Versprechungen
Der Irak ist so reich wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das Erdöl sprudelt
wieder, und der hohe Ölpreis hat der Regierung ein Rekordbudget von 150
Milliarden Dollar beschert. Auf den Straßen von Bagdad ist davon allerdings
herzlich wenig zu sehen. Das ehemals vornehme, mehrheitlich sunnitische
Adhamiya im Nordosten der Stadt wirkt fast so jämmerlich wie vor elf
Jahren.
In den schiitischen Quartieren sieht es freilich kaum besser aus. Quer
durch die Hauptstadt ziehen sich die Ruinen der durch Bombenanschläge
zerstörten Gebäude. In der ehemaligen Prachtstraße Sadun im Stadtzentrum
verdeckt nur das Meer an Wahlplakaten die Risse und Löcher in den schäbigen
Wohnblocks.
Mehr noch als die herrschende Korruption brennt den Wählerinnen und Wählern
die desolate Sicherheitslage unter den Nägeln. Zwar sei die Stromversorgung
mittlerweile einigermassen gut, auch wirtschaftlich gehe es bergauf, sagt
Sheima Temist. Aber was nütze das, wenn es keine Sicherheit gebe. Nur
selten verlässt die Leiterin einer Behörde ihr Viertel im Osten der
Hauptstadt. „Maliki hat uns Sicherheit versprochen“, sagt sie, „aber das
sind nur leere Versprechungen.“
Der amtierende Ministerpräsident Nuri al-Maliki strebt nun eine dritte
Amtszeit an. Im Wahlkampf präsentiert er sich als starker Mann, der als
Einziger das ethnisch und religiös gespaltene Land zusammenhalten kann.
Tatsächlich aber setzt er fast ausschließlich auf die Schiiten und ihre
Angst vor dem sunnitischen Terror. Vor acht Jahren war Maliki eigentlich
als Kompromisskandidat ins Amt gekommen. Mit seinem Durchgreifen gegen
schiitische Milizionäre hatte sich der Schiit auch bei den Sunniten Respekt
verschafft. Doch seit Abzug der Amerikaner machte der 63-Jährige mit dem
Pokerface so ziemlich alles falsch, was man in dem von ethnischen und
konfessionellen Gräben durchgezogenen Land falsch machen kann.
Systematisch hat er immer mehr Macht an sich gezogen. In Personalunion ist
der Schiit Ministerpräsident, Verteidigungs- und Innenminister. Als
Oberkommandierender brachte er Armee und Polizei unter seine Kontrolle und
ging mit Haftbefehlen gegen prominente Sunniten vor. Bei der letzten Wahl
hatte ihr Wahlbündnis sogar die meisten Sitze geholt. Doch es war ihnen
nicht gelungen, eine Regierungskoalition zu schmieden. Die von Saddam
unterdrückten Schiiten fürchteten, ihre nach dessen Sturz neu gewonnene
Macht zu verlieren, und scharten sich geschlossen hinter Maliki. Das
Ergebnis war eine Regierung der „nationalen Einheit“ mit den Sunniten und
Kurden als Juniorpartner.
## Isis und al-Qaida
In der westirakischen Provinz Anbar haben sich mittlerweile viele
Stammesscheichs von Maliki abgewandt. Wie schon während der amerikanischen
Besetzung haben sie den sunnitischen Extremisten das Feld überlassen. Seit
Jahresbeginn versuchen Armee und Polizei das Gebiet wieder unter Kontrolle
zu bringen. Vergeblich. Inzwischen sind die Kämpfer des „Islamischen Staats
im Irak und Syrien“ (Isis), wie sich die irakischen al-Qaida-Terroristen
heute nennen, bis kurz vor Bagdad vorgedrungen. Mit Bombenanschlägen, die
vor allem die Schiiten treffen, versucht Isis einen Krieg zwischen Schiiten
und Sunniten zu provozieren. Im letzten Jahr hat der Bombenterror rund
9.000 Tote gefordert – und in diesem Jahr bereits an die 4.000.
In einem machiavellistischen Schachzug hat sich Maliki deswegen der
Unterstützung schiitischer Milizionäre versichert. Wie der Isis schicken
auch die schiitischen Extremisten Kämpfer nach Syrien. Und nicht nur das:
Die Milizionäre füllen mittlerweile auch die Reihen der durch Desertion und
viele Tote geschwächten Armee. In den gemischten Gebieten im Großraum von
Bagdad sorgen sie mit Morden an Sunniten für Angst und Schrecken.
## Unklare Zukunftsvision
Im Irak gebe es keinen Konflikt zwischen Schiiten und Sunniten, sondern nur
einen Kampf gegen den Terror, sagt der Abgeordnete und Maliki-Vertraute
Abbas Bayati. Er findet, der Regierungschef habe ausreichend Zugeständnisse
an die Sunniten gemacht. „Wenn sunnitische Politiker glauben, der Isis
unterstütze sie, machen sie einen strategischen Fehler.“ Maliki und sein
Bündnis „Rechtsstaat“ seien die einzigen mit einer klaren Zukunftsvision,
behauptet Bayati. Wie diese aussieht, bleibt jedoch im Dunkeln.
Auf seiner Wahlkampftour im schiitischen Süden hat Maliki den Bau von einer
Million Wohnungen versprochen, großzügig Staatsland verteilt und die
Gehälter der Sicherheitskräfte erhöht. Dass er trotz Gegenwind im eigenen
Lager die meisten Stimmen unter den Schiiten holen wird, gilt als sicher.
Bayati glaubt, dass sich die schiitischen Parteien am Ende wieder unter zu
einem Großbündnis vereinen. „Maliki wird wieder Ministerpräsident“, gibt…
sich siegesgewiss.
Mit seinem autoritären Führungsstil hat der Schiit freilich nicht nur die
Sunniten, sondern auch die Kurden im Nordirak gegen sich aufgebracht. Die
im Kampf gegen das Saddam-Regime gestählten Kurden wollen sich von Bagdad
weder politisch noch wirtschaftlich herein reden lassen. Doch erstmals
treten sie nicht als geschlossener Block bei den Wahlen an.
## Die Angst schüren
Zerbrochen ist auch das Bündnis der Sunniten von 2010. Ihr damaliger
Hoffnungsträger Ayad Allawi hat seinen Glanz verloren. Mehrere Parteien
treten gegeneinander an. Die besten Aussichten hat dabei die Liste
„Mutahidun“ von Parlamentspräsident Nujaifi. Wie Maliki verspricht auch
Nujaifi, die konfessionellen Gräben zu überbrücken. Er setzt ganz auf den
sunnitischen Unmut. In immer neuen Varianten fordern Redner bei dem
Wahlkampfauftritt: „Freiheit. Gleichheit. Würde.“ Die Lautsprecher sind
heillos übersteuert. Jedes Wort klingt wie ein Peitschenschlag. Richtig
Stimmung kommt in dem mit plüschig roten Samtpaneelen verzierten Saal aber
erst auf, als Nujaifi Sätze wie diese sagt: „Für die Gefangenen, die
Unterdrückten, für die Marginalisierten müssen wir den Wechsel
herbeiführen.“ Damit schürt er jedoch die Angst der Schiiten, die Macht
erneut zu verlieren.
Vor vier Jahren habe sie noch Hoffnung gehabt, sagt die Menschenrechtlerin
Hanna Edwar. „Aber unsere Politiker haben das ganze Land als Geisel
genommen. Sie spalten den Irak und schüren den Hass.“ Wie schon bei allen
vorangegangen Wahlen ist ein Großeinsatz an Sicherheitskräften im Einsatz,
um den Urnengang zu sichern. Maliki hat die staatlichen Bediensteten
kurzerhand eine Woche nach Hause geschickt. Viele haben sich in den
nächsten Flieger nach Kurdistan, Jordanien, die Türkei oder den Libanon
gesetzt. Andere verbunkern sich aus Angst vor Anschlägen zu Hause ein. Wie
viele fürchtet Hanna Edwar den Tag nach der Wahl. Wie viele fürchtet sie
einen Rückfall in den Bürgerkrieg. Dann werde es noch schlimmer als vor
acht Jahren, als es jeden Monat 3.000 Tote gab, sagt die Aktivistin. „Wenn
sie nicht zur Vernunft kommen, sehen wir dunklen Zeiten entgegen.“
30 Apr 2014
## AUTOREN
Inga Rogg
## TAGS
Irak
„Islamischer Staat“ (IS)
Nuri al-Maliki
Schiiten
Sunniten
Irak
Islamismus
Islamismus
Irak
taz.gazete
Falludscha
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kämpfe in Mossul, Anschläge in Bagdad: Mehr als 100 Tote im Irak
Bei schweren Auseinandersetzungen im Norden des Landes starben 59 Menschen.
In Bagdad erschütterten am Samstag mehrere Autobomben vorwiegend
schiitische Wohnviertel.
Geiselnahme im Nordirak: Mehrere Dutzend Studenten befreit
Bange Stunden an der Universität von Anbar: Islamistische Extremisten
hielten zahlreiche Studenten als Geiseln, flüchteten dann aber vor dem
heranrückenden Militär.
Iraks Krieg gegen Islamisten: Fassbomben und Exekutionen
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft Bagdad den Einsatz
von Fassbomben vor. Auch Aufständische verübten schreckliche Verbrechen.
Parlamentswahl im Irak: Bündnis von Maliki stärkste Kraft
Der bisherige Regierungschef Nuri al-Maliki bleibt im Amt. Doch er braucht
mehrere Koalitionspartner. Sie zu finden, kann dauern.
Kulturszene im Irak: Das andere Gesicht Bagdads
Der in Berlin lebende Schriftsteller Najem Wali hat sich zu einer Lesung in
die irakische Hauptstadt gewagt. Ein Reisebericht.
Gefechte im Irak: Es herrscht wieder Krieg
Im Westen des Landes toben schwere Kämpfe zwischen Regierungstruppen und
sunnitischen Rebellen. Dabei mischt auch al-Qaida mit.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.