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# taz.de -- Grubenkatastrophe in der Türkei: Tränengas gegen Trauernde
> Nach dem Zechenunfall in Soma schwanken die Menschen zwischen Trauer und
> Wut. Angehörige gehen von vielen Hundert Toten aus.
Bild: Nach und nach werden die Gräber gefüllt.
ISTANBUL taz | Die Gesichter schwarz, der Protest stumm – überall in der
Türkei versammelten sich am Donnerstag Menschen auf öffentlichen Plätzen,
legten in den Fabriken die Arbeit nieder oder blockierten Zufahrten zu
Berkwerken und Betrieben. Zu den Arbeitsniederlegungen aufgefordert hatten
mehrere Gewerkschaftsdachverbände, darunter auch die als staatsnah bekannte
Gewerkschaftsföderation „Türk Is“.
Bereits am Mittwochabend hatten sich in Istanbul spontan Tausende
Demonstranten auf der Fußgängerzone Istiklal Caddesi versammelt, um gegen
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine Partei für Gerechtigkeit
und Aufschwung (AKP) zu protestieren.
Friedlich zogen sie in Richtung Taksimplatz – trotzdem griff die Polizei
den Demonstrationszug auf halber Strecke an. Ohne Vorwarnung traten
Wasserwerfer in Aktion, ganze Hundertschaften von Polizei schossen mit
Tränengas und Gummigeschossen in die Menge. Greiftrupps stürmten zwischen
die fliehenden Menschen und nahmen wahllos jeden fest, den sie erwischen
konnten.
Doch das hielt die Leute nicht davon ab, am Donnerstag erneut auf die
Straße zu gehen. In Istanbul versuchten Demonstranten, den Zufahrtsweg zum
Sitz der Soma Holding, der Betreibergesellschaft des Unglücksbergwerks, zu
blockieren. Erneut schritt die Polizei brutal ein.
## Erdogan streitet mit Angehörigen
Trotzdem dürfte Erdogan die „Mörder“-Rufe und Rücktrittsforderungen dies…
Mal nicht so leicht wegstecken, wie in der Vergangenheit. Am
Mittwochnachmittag hat der Premier die Wut der Menschen erstmals in seiner
11-jährigen Regierungszeit hautnah erlebt. Angehörige verschütteter
Bergleute gingen auf sein Auto los, trommelten aufs Dach und traten gegen
die Türen.
Obwohl der Ministerpräsident vor seinem Besuch am Unfallort 3.000
Polizisten nach Soma geschickt hatte, konnte diese nicht verhindern, dass
sein Fahrzeug von der wütenden Menge gestoppt wurde. Umringt von Bodygards
kam es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Erdogan und Angehörigen von
Bergleuten, die seinen Rücktritt forderten. Dabei soll Erdogan persönlich
einen Demonstranten geohrfeigt haben, hieß es aus Soma über Twitter.
Von Erdogans [1][Rede am Unglücksort] waren die Bergarbeiter zutiefst
enttäuscht. Mit steinerner Mine erklärte ihnen ihr Regierungschef, dass
Unfälle nun mal zum Bergbau gehörten. Das sei „traurig – aber
unvermeidbar“.
Dabei stellt sich nach und nach heraus, dass zumindestens dieser Unfall
wohl durchaus vermeidbar gewesen wäre. Ein veralteter Trafo auf 400 Meter
unter Tage und marode Elektroleitungen waren wohl die Ursache für den
Brand. Die Mine war 2005 von der Regierung an die private Soma Holding
weitergereicht worden – mit der Auflage, jährlich 6 Millionen Tonnen an den
türkischen Staat abzuliefern. Was darüber hinaus aus dem Bergwerk geholt
wird, bleibt dem Betreiber.
Der hat nach Angaben von Bergarbeitern seitdem praktisch nicht mehr in die
Anlage investiert. Die Ausbeute wurde durch immer mehr Leiharbeiter
gesteigert. Zwei Unfälle mit Todesfolge vor der aktuellen Katastrophe
ignorierte das aufsichtführende Energieministerium genauso, wie Warnungen
von Gewerkschaften. Die jährlichen Kontrollen hatten lediglich
demonstrativen Charakter.
## „Gül, hau ab“
Wie wütend die Menschen in Soma sind, bekam am Donnerstag Staatspräsident
Abdullah Gül zu spüren: Als er am Tag nach Erdogans Besuch mit
Parlamentspräsident Cemil Cicek am Unglücksort ankam, rief die Menge: „Gül,
hau ab, wir wollen dich nicht sehen.“
In der Stadt fanden am Donnerstag die ersten Beerdigungen statt. Auf einem
Feld in der Nähe der Grube haben städtische Arbeiter eine lange Gräberreihe
ausgehoben, die nach und nach mit toten Bergarbeitern gefüllt wird. Am
Nachmittag zählte man offiziell 282 Tote. Doch selbst Energieminister Taner
Yildiz, der als einziges Kabinettsmitglied seit Dienstagabend vor Ort ist,
meint, für die noch immer eingeschlossenen Bergleute gebe es wohl keine
Hoffnung mehr.
Angehörige sprechen von sehr viel mehr Toten. Auf Fox-TV behauptete ein
Bergarbeiter, in den Kühllagern Somas lägen bereits jetzt 545 Leichen. Die
Branchengewerkschaft Maden Sen erklärte am Donnerstagnachmittag, der Unfall
sei eine der weltweit schlimmsten Arbeitskatastrophen der Geschichte. Noch
immer wüsste niemand sicher, wie viele Arbeiter zum Zeitpunkt des Unglücks
in der Grube gewesen seien. Sicher sei, dass dort viele Leih- und
Schwarzarbeiter gearbeitet hätten, darunter auch Jugendliche unter 18
Jahre.
15 May 2014
## LINKS
[1] /Proteste-nach-tuerkischem-Grubenunglueck/!138493/
## AUTOREN
Jürgen Gottschlich
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