# taz.de -- Kolumne Anderes Temperament: Die WM wirft ihre Fernseher voraus | |
> Wer durch Kreuzberg geht, findet so einiges entlang der Straße: Genug | |
> Stoff für einen ultimativen Sozialroman. | |
Bild: Die einen schleppen rein, die anderen fliegen raus | |
In den Straßen liegen wieder Fernseher. Einzeln oder paarweise, mit | |
zersplitterter Mattscheibe, aufgeschraubter Rückenabdeckung oder auch noch | |
völlig intakt. Für oberflächliche Gentrifizierungskritiker in Kreuzberg 36 | |
ein klarer Hinweis darauf, dass die Armen vertrieben werden und die Reichen | |
einziehn. Die nämlich, die sich den 3D-LCD-TV mit benutzerfreundlichem | |
USB-Multimedia-Browser-Anschluss leisten können. | |
Aufmerksamere Beobachter des Bewohnerwechsels wissen jedoch, dass der | |
Fernsehwechsel hier alle vier Jahre stattfindet. Er ist ein klarer Hinweis | |
darauf, dass bald wieder Fußball-WM ist. Aber gut, Gentrifizierungskritiker | |
interessieren sich in der Regel nicht für Fußball und finden Fernsehen | |
sowieso scheiße. | |
Ein ehemaliger Wrangelkiezler, der zu der Zeit hier lebte, als der Hort der | |
Gentrifizierung noch am Potsdamer Platz verortet wurde, schaute sich von | |
seinen türkischen Nachbarn ab, wie man, ganz ohne reich zu sein, an ein | |
3D-LCD-USB-TV-Gerät kommt: etwa vier Wochen vor der WM ein solches Dings | |
bestellen und als Lieferdatum einen Tag vor WM-Beginn angeben. Nach zwei | |
Wochen Probezeit das Gerät mit dem Vermerk „Genügt meinen Ansprüchen nicht… | |
zurückschicken. Einen Nachbarn überreden, dasselbe zu tun, allerdings mit | |
Lieferdatum Viertelfinale. So kann man den gesamten WM-Monat qualitativ | |
hochwertig Fußball gucken, ohne was dafür zu bezahlen. | |
Dinge, die einfach so auf der Straße rumliegen, sind ein interessantes | |
Kreuzberger Phänomen. Anderswo gibt es die Einrichtung der Sperrmüllabfuhr. | |
In den Brennpunktstadtteilen Berlins schmeißt jeder auf die Straße, was er | |
gerade nicht mehr braucht oder was einfach definitiv nicht mehr zu | |
gebrauchen ist. Die verwatzten Kühlschränke, angeschrabbelten Bücherregale, | |
veralteten Rollatoren, Computertastaturen, Hifi-Anlagen und obdachlosen | |
Alkoholiker, die tagelang im Regen stehen, liegen oder schlafen, könnten | |
ein formidables Personal für den ultimativen Sozialroman bilden. Und einen | |
gewissen Thrill gibt es dabei auch noch: Denn die Dinge verschwinden immer | |
auf geheimnisvolle Weise. Nie werden sie von der BSR abgeholt, aber immer | |
von irgendjemandem. Daran hat sich trotz aller Gentrifizierung nichts | |
geändert. | |
Was sich geändert hat, ist das Angebot an Public Viewing zu WM-Zeiten. Die | |
klassische Kreuzberger Straßenkreuzung hatte drei Eckkneipen, in denen man | |
nicht unbedingt Fußball gucken wollte. Heute kommen auf eine Kreuzberger | |
Straßenkreuzung im Schnitt fünf Kneipen mit und ohne WLAN, dazu | |
Sportwettenstudios, Restaurants, leere Ladenräume, in denen außerhalb von | |
WMs irgendwas mit Kunst rumsteht, während WMs aber mindestens eines der | |
TV-Geräte, das in diesen Tagen von der Straße aufgesammelt wird. Meinen | |
Ansprüchen genügt das. Ich verlängere die Probezeit für den Wrangelkiez. | |
18 May 2014 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
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