| # taz.de -- Die Wahrheit: Ökodenkanstoß aus dem Minicar | |
| > In Kassel komme ich mir nie schlecht gekleidet oder arm vor. Außerdem | |
| > gibt es dort die Minicars, eine Art von Discount-Taxis. | |
| Bild: Das ist kein Smart, sondern ein Käfer. | |
| Immer wenn es mir in Frankfurt zu blöd wird, fliehe ich am Wochenende nach | |
| Kassel. Da ist alles besser. Billiger auch. In Kassel komme ich mir zum | |
| Beispiel nie schlecht gekleidet oder arm vor. Außerdem gibt es dort die | |
| Minicars, eine Art von Discount-Taxis, die sagenhaft preisgünstig sind. | |
| Wahrscheinlich werden sie ehrenamtlich von irgendwelchen Philanthropen | |
| betrieben. Vielleicht stecken sogar Jan Philipp Reemtsma oder Konstantin | |
| Neven DuMont dahinter. | |
| Im Unterschied zum Taxi dürfen Minicars weder an öffentlichen Plätzen | |
| warten noch vom prospektiven Gast herbeigewinkt werden. Man muss sie am | |
| Telefon bestellen. Dafür kostet eine innerstädtische Fahrt selten mehr als | |
| 5 Euro. Sobald man also zu zweit unterwegs ist, fährt man bereits billiger | |
| als mit Bus und Straßenbahn, kann aber trotzdem bei offenem Seitenfenster | |
| durch die Gegend rauschen wie Graf Koks oder ein ganz normaler Gutverdiener | |
| aus Frankfurt. | |
| Kürzlich hatte ich am Wochenende in Kassel wieder so viel Geld gespart, | |
| dass ich in eine regelrechte Luxuslaune geriet. Ich rief ein Minicar zum | |
| Bahnhof, und zwar ganz für mich allein. So konnte ich auch dem Fahrer in | |
| seinem Mercedes aus den frühen Neunzigern besser zuhören. Der kleine, | |
| leicht aufgeschwemmte, aber dennoch raucherrunzlige Mann war nämlich | |
| bemüht, allerlei Mythen zu zertrümmern. Mercedes etwa seien überhaupt nicht | |
| komfortabel, sondern Gift für die Bandscheiben. Meinen bewährten | |
| Smalltalk-Standard zum Thema Rücken („Harte Matratzen sind ja viel | |
| gesünder“) konterte er umgehend: „Auch da liegt ein Irrtum vor!“ Seine Ex | |
| sei früher Sportlerin gewesen und brauche unbedingt weiche Matratzen. | |
| Er empfahl mir den Erwerb eines gebrauchten Ford Escort, wie er ihn sich | |
| privat gerade zugelegt habe. Im Urlaub in Schweden habe der Wagen nur 7,6 | |
| Liter pro 100 Kilometer verbraucht und all seine Rückenprobleme kuriert. | |
| Als indes ein weißer Porsche mit platten Reifen eine Weile neben uns | |
| herfuhr, zischte er: „Was für eine Verschwendung!“ Leichthin erwiderte ich: | |
| „Von mir aus sollen die Reichen ihr Geld ruhig verplempern. Dann haben sie | |
| wenigstens nichts davon.“ | |
| Darauf er, empört: „Ich meine aber doch die Energieverschwendung! Unsere | |
| Enkel sollen auch noch aus Quatsch Auto fahren und Fernsehgehäuse aus | |
| Plastik und Chemikalien aus Erdöl haben können!“ Begeistert hakte ich nach: | |
| „Sie meinen, wir sollten uns jetzt einschränken, damit auch zukünftige | |
| Generationen weiterhin Schindluder mit der Energie treiben können?“ | |
| Er nickte gravitätisch, auf eine gewisse Art bescheiden und zugleich | |
| vollständig von sich überzeugt, wie es auch Jan Philipp Reemtsma nach einem | |
| Vortrag nicht besser hinbekommt. Bis zu unserem Abschied am Bahnhof (4,80 | |
| Euro) schwieg er zufrieden, schien sich bloß sehr über die 20 Cent | |
| Trinkgeld zu freuen. Ich dagegen wusste: Dort, wohin ich jetzt zurückfuhr, | |
| würde man den Gedanken des Minicarfahrers nicht einmal im Ansatz begreifen, | |
| allein wegen des fehlenden Vokabulars: Man weiß in Frankfurt schlicht | |
| nicht, was „sich einschränken“ bedeutet. | |
| 19 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Mark-Stefan Tietze | |
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