| # taz.de -- Die Wahrheit: Risikotechnologie mit Siebträger | |
| > Die Espressomaschine gilt heute als wichtigstes Distinktionsmerkmal der | |
| > bürgerlichen Klasse. Sind diese Apparate wirklich unbedenklich? | |
| Bild: Die Mokkakanne bleibt dezent im Hintergrund, und ist doch der Star des En… | |
| Espresso ist der Fetisch der deutschen Mittelschichten und gleichzeitig ihr | |
| Erkennungsmerkmal. Mögen Proleten unterwegs an ihren Milchschaumbomben | |
| nuckeln, Teenies für geeisten Schokomokka vor Starbucks anstehen, Omas | |
| weiterhin dem Bohnenkaffee in Porzellan huldigen und Prekariatsangehörige | |
| ihre Pumpkannen röcheln lassen – am winzigen Espressotässchen zeigt sich, | |
| wer Lebensart hat und eine tiefere Verbindung zu Italien, seinen Weinen und | |
| Restaurants unterhält. | |
| Da ich eines Tages vielleicht in die Mittelschichten absteigen möchte, habe | |
| ich mich neulich mal wieder für eine Espressomaschine interessiert. | |
| Kapselsystem kam bei mir aus ideologischen Gründen (Stalinismus) nicht in | |
| Frage, Vollautomat erschien mir überdimensioniert, zu pflegebedürftig und | |
| zu teuer. Also sollte es eine Siebträgermaschine sein, wie ich sie früher | |
| einmal hatte. Problem nur: Solche gibt’s kaum mehr. Im Markt zerrieben | |
| zwischen Kapselsystemen und Vollautomaten. Ein Nischenprodukt für Puristen. | |
| Auf der Suche nach Entscheidungshilfe stolperte ich durch Bewertungsportale | |
| und Internetforen. Hier kristallisierte sich schnell heraus, dass es | |
| überhaupt nur eine einzige Maschine dieser Bauart gibt, die unter Kennern | |
| Respekt genießt: die „Gaggia Classic“. Ein seit Jahrzehnten fast | |
| unveränderter Klassiker, der in der italienischen Gastronomie praktisch | |
| Standard sei. | |
| Aber was schien das für ein zickiges Ding zu sein! Bevor man die Maschine | |
| in Gang setzen konnte, musste man das mitgelieferte Sieb wegschmeißen und | |
| sich ein neues besorgen, wie die Foristen übereinstimmend schrieben. Und | |
| jedes Mal 30 Minuten vorheizen – morgens nach dem Aufstehen, wenn man | |
| dringend einen Schuss Koffein brauchte! Und weil die Maschine einen eigenen | |
| Willen besaß, gab es auch bei akribischster Zubereitung immer noch tausend | |
| Gründe, warum das Resultat doch keine „Crema“ hatte oder sonst wie unter | |
| aller Sau war. | |
| Man musste den Foren zufolge monatelang mit Bohnensorten, Kaffeemühlen und | |
| Mahlgraden experimentieren, bis man etwas Passendes für das anspruchsvolle | |
| Gerät gefunden hatte. Eventuell das Espressomehl im Sieb mit einem | |
| Metallstempel andrücken, aber nur ganz leicht, sonst war der Espresso hin | |
| oder sogar die ganze Maschine. Reinigen musste man sie natürlich täglich. | |
| Und irgendwann war es dann so weit, dass man der Espressomaschine das | |
| Frühstück zubereitete. Den Espresso dazu machte man am besten in einer | |
| zweiten Maschine. | |
| Als solche hab ich mir ein Fabrikat mit dem denkbar unitalienischen Namen | |
| „Rommelsbacher“ gekauft. Mit deren Espresso bin ich nicht besonders | |
| zufrieden, aber dafür beherrscht sie mich auch nicht. In seinem letzten | |
| Text hat Frank Schirrmacher gewarnt: „Jeder weiß, wie man ein Smartphone | |
| bedient; die politische Frage lautet umgekehrt: wie man verhindert, dass | |
| man vom Smartphone bedient wird.“ Mit den Espressomaschinen, die gerade | |
| dabei sind, sich die Zukunft und uns Menschen untertan zu machen, wollte | |
| sich Schirrmacher offenbar lieber nicht anlegen. | |
| 26 Jun 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Mark-Stefan Tietze | |
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