# taz.de -- Debatte Evangelische Kirche: Wir wollen Volkskirche bleiben | |
> Die Familie als Mutter, Vater, Kind zu definieren – aus der Bibel lässt | |
> sich das nicht ableiten. Ein Essay zur neuen Sexualethik. | |
Bild: Die evangelische Kirche verabschiedet ihre alte Sexualmoral. | |
Geschlechterfragen sind Zukunftsfragen für die evangelische Kirche und ihre | |
Rolle in der Gesellschaft. Denn eine Kirche, die Geschlechtergerechtigkeit | |
zum Leitbild hat, kann sich glaubwürdig dem Rechtspopulismus in Deutschland | |
entgegenstellen. | |
Ausgerechnet Kirche!, wird jetzt so manche denken? Ja, ausgerechnet die | |
Kirche. Denn wer könnte sonst glaubwürdig gesellschaftliche | |
Veränderungsprozesse begleiten, wenn nicht eine Institution, die sich in | |
den letzten dreißig Jahren einem radikalen Wandel im Blick auf ihre | |
Sexualethik unterzogen hat? Die Herausforderungen lassen sich an der | |
kontrovers geführten Diskussion um Familie und Lebensformen ablesen, die | |
nach der Veröffentlichung einer Orientierungshilfe des Rats der | |
Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im letzten Jahr entbrannte. | |
Nikolaus Schneider, der als Ratsvorsitzender für die Veröffentlichung mit | |
verantwortlich war, sagt deutlich, dass es ein normatives Verständnis der | |
Ehe als „göttliche Stiftung“ nicht gibt. Traditionelle Geschlechterrollen | |
könnten nicht mit einer vermeintlichen „Schöpfungsordnung“ begründet | |
werden. Auch die Bibel bietet eine Vielzahl von Bildern zum Thema Familie. | |
Aus dem evangelischen Eheverständnis könne heute eine neue Freiheit auch im | |
Umgang mit Geschiedenen, Einelternfamilien oder auch mit | |
gleichgeschlechtlichen Paaren erwachsen. Starke Worte, die viel Zustimmung | |
und zugleich eine Flut an kritischen Reaktionen hervorriefen, die vor allem | |
aus kirchlich konservativen und evangelikalen Kreisen kamen. | |
## Familie als Verantwortungsgemeinschaft | |
Letztere riefen dazu auf, dass Christen bei der Bibel und den | |
reformatorischen Bekenntnissen bleiben und nicht „Irrwegen der EKD“ folgen | |
sollen. In Landeskirchen und Gemeinden wird weiter heftig gestritten. | |
Sollen gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften kirchlich getraut werden? | |
Dürfen lesbische und schwule Pfarrer_innen mit ihren Partner_innen im | |
Pfarrhaus leben? Was ist Familie? Wie können biblische Texte hier | |
Orientierung geben? | |
Die EKD gibt darauf eine klare Antwort: Familie sind Gemeinschaften, in | |
denen Menschen verlässlich für einander und andere Verantwortung | |
übernehmen. Diese Neupositionierung ist dringlich notwendig, weil sich | |
Lebensformen pluralisieren und Kirche darauf reagieren muss, wenn sie | |
weiterhin Volkskirche sein will. | |
Der Ton der Auseinandersetzung verschärft sich noch, wenn Kirche sich | |
positiv zu Genderfragen positioniert. Deutlich abzulesen ist das an den | |
aggressiven Reaktionen auf die Eröffnung des Studienzentrums der EKD für | |
Genderfragen in Kirche und Theologie im April diesen Jahres. Gender ist in | |
fundamentalistischen Kreisen zu einem Hasswort geworden. Auf den | |
entsprechenden Webseiten lässt sich nachverfolgen, dass es in der Ablehnung | |
der „Ideologie des Genderismus“ deutliche Verbindungen zu | |
rechtspopulistischen Bewegungen gibt, die sich zugleich einig sind in ihrer | |
Ablehnung einer angeblichen Islamisierung Deutschlands und offen homophob | |
argumentieren. | |
## Die Rechten laufen Sturm | |
Oft zitiert wird in diesen Zusammenhängen die Publizistin Birgit Kelle, die | |
unter anderem für die Junge Freiheit schreibt. Sie wirft der evangelischen | |
Kirche vor, sie unterwerfe sich einer „seltsamen und ideologischen | |
Genderforschung“, die nichts anderes vorhabe, als das christliche | |
Menschenbild zu zersetzen. | |
Kelle und Co behaupten, dass Gender die Unterschiede von Frau und Mann | |
auflösen will und damit auch christliche Identität in Gefahr bringe. Und | |
damit schade Gender der Familie. Mütter, die sich für Kinder und gegen | |
Berufstätigkeit entscheiden, würden nun verunglimpft und abgewertet. Diese | |
„Gender-Kritiker_innen“ treffen damit einen wunden Punkt, der nicht nur | |
Mitglieder der Kirchen betrifft: Familien stehen unter Druck. Viele | |
Menschen fragen sich, ob ihre Lebensmodelle noch tragen, wenn sie alt oder | |
arbeitslos werden. Mittlerweile wird jede dritte Ehe geschieden, die Zahl | |
der Alleinlebenden steigt. Es gibt keine „Normalität“ mehr, die ein | |
sicheres Leben garantiert, keine Mehrheit einer Lebensform. Diese | |
Veränderungsprozesse lösen Verunsicherungen aus und werden von politischen | |
Kreisen missbraucht. Hier ist Kirche als Moderatorin gefragt. | |
Eine ihrer Kernkompetenzen wird mit dem schönen alten Wort „Seelsorge“ | |
beschrieben. Es ist eine wichtige Aufgabe der Kirche, Räume für | |
Diskussionen zu öffnen und deutlich zu machen: Die Ängste kommen nicht aus | |
der Bibel. Sie kommen aus Vorstellungen davon, was eine „richtige“ Familie | |
ist, der kaum jemand gerecht werden kann. Kirche ist eine Institution, die | |
ganz unterschiedliche Strömungen und Menschen unterschiedlicher Herkunft | |
und politischer Richtungen vereint. Das macht sie oft schwerfällig, darin | |
liegt aber auch ihre Chance, Begegnungen und Gespräche zu ermöglichen, die | |
sonst nicht möglich sind. | |
Es ist nicht ganz einfach allgemeinverständlich zu erklären, was Gender | |
bedeutet und was es heißt, neu über Geschlecht nachzudenken. Aber es ist | |
unerlässlich, weil es darum geht, Ängste vor Vielfalt zu nehmen. | |
Wenn auch homosexuelle, trans- und intersexuelle Menschen in den Kirchen | |
wertgeschätzt werden, steht für manche Menschen der eigene Lebensentwurf | |
dem Spiel. Denn beim Thema Gender geht es immer um die eigene Identität, | |
zugleich aber auch um Macht. Deshalb wird so heftig um Fragen der | |
Geschlechtergerechtigkeit, Familie und Lebensformen gerungen. Es muss | |
geschützte Räume für diese Diskussionen geben, in denen Ängste und | |
Verunsicherungen, aber auch Grenzen und Überforderungen benannt werden | |
können. Kirche kann Menschen darin begleiten, auch über ihre Verletzungen | |
zu sprechen und Schuld zu benennen. Dabei kann sie deutlich machen, dass | |
Gender auch ein Begriff dafür ist, Vielfalt wertzuschätzen und Versöhnung | |
zu ermöglichen. | |
## Keine Angst vor Vielfalt | |
Dazu gehört es auch, sich Fehler einzugestehen. Gerade im Blick auf die | |
eigene Geschichte der Kirche in ihrem Umgang mit Frauen, mit homosexuellen, | |
intersexuellen und transsexuellen Menschen steht hier noch vieles aus. | |
Versöhnung kann gelingen, wenn offen Schuld benannt wird. In diesem Prozess | |
ist es gerade auch für eher konservative Christ_innen notwendig, klare | |
Grenzen gegenüber politisch rechtsgerichteten Medien und Gruppierungen zu | |
ziehen, von denen sie zurzeit heftig umworben werden. Sie müssen deutlich | |
machen, wie sich ihre berechtigten religiösen Anschauungen von | |
rechtspopulistischen Positionen unterscheiden. Dazu braucht es eine | |
Diskussionskultur, die auch in den Kirchen neu eingeübt werden muss: eine | |
Kultur der Wertschätzung, die ideologische Grabenkämpfe überwindet. Eine | |
Kultur, die Vielfalt hoch achtet und gleichzeitig darauf schaut, was die | |
unterschiedlichen Positionen verbindet. Der Rechtspopulismus in Europa hat | |
sich das Thema Familie zu eigen gemacht. Eine Kirche, die in einem offenen | |
Diskurs über tragfähige Lebensmodelle nachdenkt, kann dem etwas | |
entgegenstellen. | |
Geschlechterfragen sind Zukunftsfragen für Kirche und Gesellschaft – | |
Nikolaus Schneider hat das erkannt. Mit seinem Rücktritt vom Ratsvorsitz | |
kommt nun vieles neu in Bewegung. In seiner persönlich glaubwürdigen, | |
klaren Art konnte er die verschiedenen Strömungen und Interessengruppen | |
verbinden und wichtige Veränderungsprozesse voranbringen. Wenn im Herbst | |
der/die Vorsitzende des Rats der EKD neu gewählt wird, werden auch die | |
Weichen für den Kurs der EKD in die Zukunft neu gestellt. Hat | |
Geschlechtergerechtigkeit in der evangelischen Kirche auch weiterhin eine | |
Chance? – Ja, und zwar deshalb, weil die Impulse dazu aus der kirchlichen | |
Basis kommen. | |
Die Bibel in gerechter Sprache wurde seit 2006 fast 90.000-mal verkauft. | |
Die Implementierung geschlechtergerechter Sprache auf allen Ebenen | |
kirchlicher Praxis gehört zu den Erfolgsgeschichten, die auch das | |
Bewusstsein für weitere Aspekte der Gerechtigkeit geöffnet haben. | |
Insbesondere die Synode der EKD, in der Menschen aus allen Bereichen des | |
gesellschaftlichen Lebens vertreten sind, ist eine starke Kraft, die sich | |
dafür einsetzt, dass sich eine neue Führungskultur in der Kirche etabliert. | |
Im letzten Jahr wurde hier ein Gesetz verabschiedet, das regelt, dass | |
sämtliche Gremien der EKD zukünftig im ausgewogenen Geschlechterverhältnis | |
zu besetzen sind. Mittlerweile gibt es fast 40 Prozent Pfarrerinnen, der | |
Anteil von Frauen in den Führungspositionen liegt allerdings erst bei 20 | |
Prozent. | |
Die evangelische Kirche verändert sich, dieser Transformationsprozess muss | |
klug begleitet werden. Dazu gehört auch der Mut, umstrittene Themen | |
anzusprechen und die öffentliche Diskussion darüber zu führen. Aktuell ist | |
eine Denkschrift zum Thema Sexualität in Vorbereitung. Wenn die EKD | |
öffentlich die Position vertritt, dass sexuelle Vielfalt eine Realität und | |
gute Gabe Gottes ist, kann sie in den aktuellen gesellschaftlichen | |
Diskussionen eine gewichtige Stimme sein. Gesamtgesellschaftlich geht es | |
darum, eine Sexualethik zu entwickeln, die die Würde von Menschen achtet | |
und Kriterien für ein verantwortungsvolles Miteinander benennt. | |
12 Jul 2014 | |
## AUTOREN | |
Claudia Janssen | |
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