# taz.de -- Wikipedia-Konferenz in London: Männerüberschuss beim Lexikon | |
> Tausende Wikipedia-Fans diskutieren die Zukunft der Online-Enzyklopädie. | |
> Sie wollen gegen Zensur, Lobbyisten und Frauenmangel vorgehen. | |
Bild: Frauen würden guttun: bei den Herren und bei Wikipedia. | |
BERLIN taz | Der eine rollt mit dem Zug in der britischen Hauptstadt ein, | |
der andere kommt mit dem Billigflieger, doch das Ziel der Reisenden aus | |
Berlin ist dasselbe: die Wikimania im Londoner Barbican Centre. Hier, quasi | |
an der Kathedrale von St. Paul’s, wollen auch die Vertreter des Vereins | |
Wikimedia Deutschland ihre Ideen für die Zukunft der Onlineenzyklopädie | |
vorbringen. Sie haben in den kommenden Tagen viel zu erzählen. | |
Das digitale Nachschlagewerk, an dem jeder Nutzer mit wenigen Mausklicks | |
mitarbeiten kann, ist im Wesentlichen dezentral organisiert. Die Wikimedia | |
Foundation, die jährlich aufwendig um Spenden bittet, organisiert den | |
Betrieb: Server, Technik, Entwicklung. In vielen Ländern haben sich eigene | |
Fördervereine gebildet, Wikimedia Deutschland 2004. | |
In den vergangenen zehn Jahren ist ein professioneller Apparat erwachsen, | |
politisches Lobbying für frei zugängliche Informationen inklusive. | |
Mittlerweile arbeiten in Berlin etwa 60 Mitarbeiter. Sie treiben auch das | |
vielleicht wichtigste Projekt für die Zukunft des Portals voran: Wikidata. | |
Artikel sollen künftig Daten wie die Bevölkerungsgröße einer Stadt nicht | |
mehr als Text, sondern lediglich als Verweis zur entsprechenden Stelle in | |
einer zentralen Datenbank enthalten – das wäre eine völlig neue Struktur. | |
Bislang werden die Eckdaten einzelner Elemente etwa von Personen, Ländern | |
und auch technischen Entwicklungen händisch in jede Ausgabe eingepflegt. | |
Die mehr als 32 Millionen Artikel aber sind in insgesamt 285 Sprachen | |
verfasst, davon 1,7 Millionen auf Deutsch. Die parallele Pflege verbrennt | |
Energie und führt – je nach Thema – zu einem teils heftigen | |
Aktualitätsgefälle. Die englischsprachige Ausgabe kann frischer sein als | |
die Deutsche und umgekehrt. | |
„Derzeit arbeiten wir besonders an der Möglichkeit, Abfragen machen zu | |
können, um zum Beispiel alle Personen angezeigt zu bekommen, die in einem | |
bestimmten Jahr geboren wurden“, erklärt Jan Apel von Wikimedia | |
Deutschland. Solche Listen könnten dann völlig automatisch generiert | |
werden, weil Informationen „maschinenlesbar“ hinterlegt würden. Die | |
Wikipedia soll so auch „bessere Suchergebnisse“ ermöglichen. | |
## „Zirka 13.000 Autoren“ | |
Der Berlin Verein reklamiert die Idee „Wikidata“ für sich. Erste | |
rudimentäre Versionen des neuen Systems stehen im Netz – noch in einer Art | |
digitalem Paralleluniversum, das klassischen Nutzern verborgen bleibt, sie | |
müssten es gezielt ansteuern. Trotzdem: Wikidata wächst. „Derzeit sind es | |
zirka 13.000 Autoren, die regelmäßig zu Wikidata beitragen“, sagt Apel. | |
Das Berliner Büro will in London aber auch für mehr Vielfalt plädieren. Die | |
tut bei Wikipedia not: Die Enzyklopädie, die auf das Engagement von | |
Ehrenamtlichen angewiesen ist, verliert ihre Autoren. Während vor drei | |
Jahren weltweit noch 89.000 Aktive gezählt wurden, weist die Statistik | |
aktuell nur noch 69.000 aus, davon 6.000 für die deutschsprachige Ausgabe | |
–auch hier geht das Engagement zurück. In London legt Wikimedia Deutschland | |
deshalb einen „Kompass der Vielfalt“ vor. Die Wissensaktivisten benennen | |
darin auch den teils erheblichen Männerüberschuss unter den sogenannten | |
Wikipedianern. Diese Entwicklung ziehe viel nach sich, analysiert das | |
Berliner Büro. So seien etwa Biografien von Frauen „unterrepräsentiert“. | |
Schnelle Lösungen scheinen jedoch nicht in Sicht. Das Papier schlägt etwa | |
gezieltes Scouting vor und Netzwerke, die Frauen fördern. | |
Auf dem Wikipedia-Happening wird wohl auch der Einfluss von Lobbyisten auf | |
die Einträge diskutiert. Die Stiftung hat erst kürzlich mit einem für sie | |
ungewöhnlich radikalen Schritt reagiert und gezielt Zugriffe aus dem | |
US-Kongress geblockt – es seien „unsachliche Einträge“ etwa zum Attentat | |
auf den einstigen US-Präsidenten John F. Kennedy festgestellt worden. | |
## Recht auf Vergessen | |
Vor bald zwei Monaten hat die Wikimedia Foundation zudem die | |
Nutzungsbedingungen angepasst, um für Transparenz zu sorgen: Wer für eine | |
Änderung bezahlt wird – etwa als Lobbyist oder als Mitarbeiter einer | |
PR-Agentur –, muss das nun in seinem Profil und in den Notizen zu den | |
Aktualisierungen offenlegen, die hinter jedem Eintrag einsehbar sind. | |
Allerdings darf bezweifelt werden, ob sich alle an die neuen Spielregel | |
halten. | |
In London werden gut 2.000 Hardcore-Wikipedianer erwartet, darunter auch | |
Lila Tretikov. Die gebürtige Russin, die in den USA Informatik studiert hat | |
und mehrere Patente in der Datenanalyse hält, leitet seit diesem Sommer die | |
Wikipedia-Stiftung. Die 36-Jährige hatte sich gegen 1.300 Kandidaten | |
durchgesetzt. Auf der Veranstaltung wird sie eine zentrale Rede halten, | |
ihre erste dieser Art. | |
Dabei erwarten die angereisten Wikipedianer ein deutliches Zeichen. | |
Tretikov wurde unter anderem geholt, weil sie – aufgewachsen in der | |
Sowjetunion – weiß, wie schützenswert Transparenz und freie | |
Meinungsäußerung sind. Die Wikipedia, die wie kein anderes digitales | |
Projekt für den ungehinderten Zugang zu Informationen kämpft, ist hier | |
neuerdings bedroht: Neue Regeln zum Datenschutz wie das „Recht auf | |
Vergessen“ kommen technisch gesehen einer Zensur gleich. Tretikov hat | |
bereits anstehende „Gedächtnislücken“ kritisiert. Immerhin müsse Google | |
neuerdings in Europa in bestimmten Fällen Links löschen – auch zu | |
Wikipedia. Auch das wird in London Thema sein. Geliefert wird erst wieder | |
nach dem fast einwöchigen Happening – dezentral wie üblich. Auch aus | |
Berlin. | |
7 Aug 2014 | |
## AUTOREN | |
Daniel Bouhs | |
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