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# taz.de -- Kolumne Kreaturen: Abcashen mit Gurken-Sandwich
> Pferdewettenlyrik im Programmheft, West-Berliner Tennisclub-Glamour und
> überraschend wohlgenährte Jockeys: ein Tag auf der Trabrennbahn.
Bild: Ja, wo laufen sie denn?
Beim Kiosk lagen so Gutscheine aus, für die Traberderby-Woche: Drei
Besucher zum Preis von einem! Da musste ich natürlich zuschlagen, und an
einem tropenwarmen Augustsonntag geht es mit einer pferdekompetenten
Reisegruppe auf nach Berlin-Mariendorf.
Wir breiten unsere Decken und unser Picknick aus, es gibt Gurken-Sandwiches
und Manner-Waffeln, geschnittene Wassermelone aus der Kühltasche und
selbstgemachte Minifrikadellen. Erstmal wird das Programmheft gelesen, das
mit seiner unvergleichlichen Pferdewettenlyrik auf die Rennen des Tages
einstimmt: „… von der ’5‘ wird der mächtige Braune früh das Kommando
übernehmen und dann nach Hause stiefeln – daran beißt die Maus keinen Faden
ab … Ein Langstrecken-Rennen mit mehr als sieben Siegeln, das den Wettern
die Köpfe qualmen lässt … Shark Attack wird sich an die Innenkante
verkrümeln und hoffen …“
C. hat sich in Traber-Foren im Internet vorbereitet und weiß, dass man den
Texten im Programmheft nur bedingt trauen kann. Auch von
Dreier-Einlaufwetten hält er wenig. „Da kann man ja gleich Lotto spielen!“
Er macht in den ersten beiden Rennen Gewinne, die er klug reinvestiert, und
ist bald völlig im Rausch, spricht nur noch davon, wo er gleich wieder
„abcashen“ wird. P. hingegen verliert immer mehr. Er setzt noch weiter, „…
die Verluste auszugleichen“, und geht am Ende mit 40 Euro minus aus dem
Renntag.
Ich setze meistens auf Pferde mit lustigen Namen wie Cosmic Lover oder
Candyman Hornline oder Jockeys mit lustigen Namen wie Epimach Fleschhut.
Nur einmal gewinne ich, weil ein Pferd nachträglich disqualifiziert (das
kommt häufig mal vor, wenn die Tiere einen Galoppschritt machen, es ist wie
mit den Gehern bei Olympia) wird und Be Stuck Paasloo, mein Favorit auf
Sieg, gewinnt, auch C. kann hier gleich wieder abcashen. So mache ich aus 2
Euro 17,20, die ich natürlich gleich wieder ins Spiel bringe, am Ende gehe
ich mit exakt 20 Cent Gewinn nach Hause.
Später stromern wir übers Gelände, vorbei an „Florida Eis“-Ständen und
Werbeinseln des führenden Pferderennsportportals [1][trotto.de]. Bei den
Ställen kann man die Jockeys von Nahem sehen, sie sind erstaunlich alt und
gar nicht so klein, wie wir dachten, vor allem nicht so dünn. Die Pferde
wiederum sind alle braun, selbst die „Füchse“. Schimmel oder Rappen gibt es
keine. Sie sind wohl zu nervös zum Traben.
Vor der VIP-Tribüne findet als Pausenfüller eine Modenschau statt, der
Höhepunkt ist eine Dirty-Dancing-Tanzeinlage, und die Models in
quietschbunten Kleidern von Drezz 2 Imprezz, Typ: Steglitzer Barock, lassen
Luftballons in die Luft steigen. Peer Kusmagk sitzt auf einem der wenigen
VIP-Plätze, nach der Schau lässt sich eine dicke Besucherin in einem
schrillen Outfit mit ihm fotografieren. Es ist dieser
Rolf-Eden-Tennisclub-Glamour, den das West-Berliner Pseudobürgertum seit
über 60 Jahren kultiviert, ein West-Berlin, das hier in Mariendorf noch
immer existiert.
Den besten Blick hat man von der Dachterrasse der 70er-Jahre-Betontribüne.
Hier wächst Rasen aus den Fugen zwischen den Steinplatten, ein paar
Monobloc-Plastikstühle stehen herum, die meisten sind kaputt. Seit der
Wende zahlen die Berliner Züchter ihre Stallmiete lieber auf Gehöften in
Brandenburg, dazu kommt die Konkurrenz durch die Internetwetten: Die
Trabrennbahn hat ihre besten Tage genau so hinter sich wie die meisten
ihrer Gäste.
Im Innenbereich der Haupttribüne, wo die hartgesottenen Stammgäste bei
Schultheiss sitzen, der Tisch vor ihnen voller Papier, und die Rennen auf
kleinen Fernsehern verfolgen, haben selbst heute am Derby-Sonntag die
„Traber-Tränke“ und die „Futterluke“ geschlossen. Auch die Rennen trag…
nur noch Namen wie „Preis der Dietz-Direktsäfte“.
Die Gutscheine vom Kiosk gelten übrigens nicht am Derby-Sonntag, wir
mussten alle den vollen Eintritt zahlen. Trotzdem ist es einer der
schönsten Tage des Jahres.
21 Aug 2014
## LINKS
[1] http://trotto.de
## AUTOREN
Michael Brake
## TAGS
Pferde
Westberlin
Vampire
Handball
Clowns
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