# taz.de -- Degrowth-Konferenz in Leipzig: Schrumpfen und Spaß dabei | |
> Tausende fordern ein Ende des Wahns vom Wachstum. Sind das einige | |
> Andersdenkende auf dem Selbstbestätigungstrip – oder ist es die neue | |
> Avantgarde? | |
Bild: Das neue Modell: gärtnern statt die Wirtschaft anzukurbeln. | |
LEIPZIG taz | Am Abend scheitert die Degrowth-Konferenz um ein Haar an zwei | |
Achtelnoten: Ein paar Dutzend Teilnehmer haben in einem Hörsaal der | |
Universität Leipzig spontan einen Chor gebildet. Der klingt eigentlich ganz | |
gut, aber am Ende der Punchline des Songs „Another world, she is | |
poss-ib-le“ singt zwei Achtel lang immer irgendjemand falsch. | |
Der Text steht für viel von dem, was in Leipzig passiert. Bis zu 3.000 | |
Teilnehmer zählt die vierte Degrowth-Konferenz, so viel wie nie. Fünf Tage, | |
500 Veranstaltungen. Und alle eint ein Gedanke: Das ewige | |
Wirtschaftswachstum macht den Planeten kaputt. Sie wollen eine | |
Gesellschaft, in der sich die Menschheit gesundschrumpft, statt sich ins | |
Verderben zu konsumieren. | |
Aber ist das wirklich möglich? Oder nur eine romantische Vorstellung? Und | |
muss man so eine Gesellschaft erdenken, erarbeiten oder erkämpfen? Da gehen | |
die Meinungen auseinander. | |
Stellt man diese Fragen den Teilnehmenden der Konferenz, erhält man | |
zunächst eine Definition: Es geht nicht um einen schlichten Rückbau der | |
Industriegesellschaft, nach dem sich alle in Lumpen hüllen. Die Alternative | |
ist viel umfassender. Und sie ist, so die Botschaft: Gut. | |
Verzicht verkauft sich schlecht und die Ökoapokalypse sowieso. In Leipzig | |
formt sich eine Bewegung, die zwar viel vom Kollektiv spricht, aber ganz im | |
Zeitgeist ein sehr individuelles, durchweg positives Versprechen gibt: | |
Degrowth heißt mehr Miteinander, mehr Zeit, mehr Gerechtigkeit, mehr | |
Coolness, weniger Arschlöcher und dafür nicht so viel Krempel im Keller. | |
Man darf nur nicht mehr so geil auf Konsum sein – dann macht Degrowth | |
sicherlich mehr Spaß als die heutige Hektik. Harald Welzer und sein Credo | |
vom Umbau der mentalen Infrastruktur wird viel zitiert. | |
## Genossenschaften, lokale Strukturen, Selbstversorgung | |
Stellt sich die Frage, ob das alles so neu ist. Klingt irgendwie nach „Du | |
musst dein Ändern leben“, nach „Grenzen des Wachstums“, nach 1970ern. | |
Tatsächlich ist vieles an der Degrowth-Idee klassische Kapitalismus- und | |
Wachstumskritik neu verpackt. Was nicht verwundert, schließlich baut das | |
eine auf dem anderen auf. Die Gegner sind nach wie vor der Neoliberalismus, | |
Freihandel, heute in Form der Abkommen wie TTIP oder Ceta, multinationale | |
Konzerne. Die Alternativen heißen Genossenschaften, Feminismus, lokale | |
Strukturen, Selbstversorgung. | |
Degrowth ist mehr als Neusprech für olle Kamellen. Dafür ist allein die | |
Problemanalyse der Bewegung zu sehr Allgemeingut. Ein globales Beispiel: | |
Die Vereinten Nationen verhandeln gerade darüber, wie die nächsten | |
Entwicklungsziele ab 2015 aussehen sollen. Sie befragten weltweit 1,7 | |
Millionen Menschen, vom Industrielandingenieur bis zum Slumbewohner, was | |
sie sich wünschen. Die meisten nannten Gerechtigkeit, Teilhabe und Würde – | |
nicht Konsum und Wohlstand. | |
In der vergangenen Legislaturperiode hat sich selbst der Bundestag in einer | |
Enquetekommission mit alternativen Wohlstandsmodellen beschäftigt. | |
Ein paar Abgeordnete aus dieser Kommission hatten sich auch zu einer | |
Diskussion auf der Leipziger Konferenz eingefunden. Der Abstand zur | |
politische Sphäre derartiger neuer Wachstumsmodelle sei „unglaublich groß�… | |
sagte der ehemalige Grünen-Abgeordnete Hermann Ott. | |
Die Linke Sabine Leidig ergänzte, die Debatten im Bundestag liefen nach wie | |
vor nach den alten Mustern – keine Spur von Degrowth. Dennoch stellte sie | |
fest: „Wachstumskritik ist als gesellschaftliche Auseinandersetzung | |
salonfähig geworden.“ Ähnlich sah das auch Matthias Zimmer von der CDU. | |
## Wachstum ohne Chaos als Paradigma beseitigen | |
Allerdings sucht Degrowth keinen neuen Wachstumsbegriff, sonder ringt um | |
den richtigen Weg, Wachstum ohne Chaos als Paradigma zu beseitigen. Das | |
unterscheidet sich fundamental von dem, was längst schwarz-rot-grüner | |
Konsens ist: Wachstum ja, nur eben grüneres, ökologischeres. Das ist auch | |
der Unterschied zur Diskussion auf UN-Ebene: Auch dort ist die Vorstellung, | |
Entwicklung und Wachstum hingen zusammen, ungebrochen. | |
Stellt sich die Frage, ob diese Annahme nicht berechtigt ist? Geht das, BIP | |
schrumpfen und gleichzeitig Armut bekämpfen? Auf der Konferenz war viel | |
Problemanaylse dazu zu hören, wie es nicht geht. Wie Wirtschaftswachstum | |
und Freihandel in vielen Ländern zu sozialen Spaltungen führt, die breite | |
Masse verarmen lässt, die Natur zerstört. | |
Eine Zuhörerin fragte in einer Veranstaltung, was mit dem Export von | |
Kunsthandwerk indigener Kulturen passiert, wenn es nur noch lokale | |
Wirtschaftskreisläufe gibt. Kuckucksuhr statt Artesanía? Die Praxis ist | |
komplex. | |
Dennoch ringen in Leipzig Wirtschaftswissenschaftler um harte, ökonomisch | |
Fragen: Muss die Geldmenge sinken, wenn eine Wirtschaft schrumpft? Kann es | |
dann noch Zinsen geben? Setzen ökonomische Theorien wirklich Wachstum als | |
unvermeidlich voraus – oder können sie auch mit Schrumpfung leben? Eine | |
konsistent Theorie hat niemand parat, aber das wäre wohl auch zu viel | |
verlangt. | |
Das mit den Achtelnoten hat übrigens dann noch geklappt. Eine Hymne für | |
eine Bewegung, die sich in Leipzig noch selbst finden will: Auffallend war | |
die totale Abstinenz von Gegenstimmen. Kein liberaler Wachstumsfan, kein | |
Banker, keiner der viel gescholtenen neoliberalen Mainstream-Ökonomen, kein | |
Unternehmer, der vom knallharten Konkurrenzkampf erzählt. Zumindest so ist | |
eine andere Welt poss-ib-le. | |
4 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Ingo Arzt | |
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