# taz.de -- Kommentar Scheindebatten: Wo leben wir eigentlich? | |
> Noch nie nach 1945 war die politische Lage an so vielen Orten so | |
> explosiv. Doch die deutsche Politik beschäftigt sich mit der Maut. | |
Bild: Trümmerfeld im Osten von Gaza-Stadt. | |
Leicht kann man dieser Tage verzweifeln. In der Welt ist buchstäblich der | |
Teufel los, doch hierzulande beschäftigt sich die Politik vor allem mit | |
Wohlstandssicherung und Kinkerlitzchen [1][wie der Maut]. Gleichzeitig gibt | |
es eine extensive Berichterstattung über Bürgerkriege und Gewalt, denn an | |
den politischen Brennpunkten von der [2][Ukraine] über den [3][Irak und | |
Syrien] bis nach Israel und Libyen brennt es wirklich. Noch nie nach 1945 | |
war die politische Lage an so vielen Orten so explosiv wie momentan in | |
Osteuropa und im Nahen Osten. | |
In den genannten Ländern, aber auch anderswo – etwa in Afrika – schaukeln | |
sich Konflikte reihenweise zu brutalen asymmetrischen Kriegen hoch, durch | |
die Hunderttausende vertrieben und ins Flüchtlingselend gezwungen werden. | |
Die Signatur des noch jungen 21. Jahrhunderts bilden kaum übersehbare | |
Flüchtlingsströme und riesige Flüchtlingslager. | |
Im Zentrum des medialen Interesses steht aber nicht dieses unglaubliche | |
Elend, sondern die grausamen Propagandavideos etwa der Miliz Islamischer | |
Staat (IS). Ganz im Sinn von IS verbreitet die Presse die spektakulären | |
Nachrichten und Bilder der Massenmorde. Die Empörung darüber verpufft | |
schnell, es geht um Knalleffekte, mehr nicht. | |
Die Verbrechen dagegen sind wirklich geschehen und von für die westliche | |
Öffentlichkeit weitgehend gesichtslosen terroristischen Organisationen zu | |
verantworten, über deren Herkunft, Rekrutierungsmethoden und Finanzierung | |
es vielerlei Gerüchte und Spekulationen gibt, aber nur spärliche belastbare | |
Fakten und Informationen. Belanglosigkeiten ersetzen vertiefende Analysen. | |
## Automobiler Wahnsinn | |
Blickt man als politisch interessierter Zeitgenosse auf die deutschen | |
Diskussionen in diesem Sommer, kann man nur staunend oder verzweifelnd | |
fragen: Wo leben wir eigentlich? Zum Thema Nummer eins wuchs sich über Tage | |
und Wochen die bayerische Marotte aus, ausländische Autofahrer auf | |
deutschen Straßen und Autobahnen abzukassieren. | |
Das Vorhaben hat mit der rundum vernünftigen Idee, dass alle jene für | |
Belastungen zahlen sollen, die diese verursachen, gar nichts zu tun. Davon | |
ist seriös nicht die Rede, dafür von allerlei Schein- und Randproblemen, | |
die den Kern – den automobilen Wahnsinn – nicht einmal berühren. Die | |
Bundesregierung plant im Sommerloch ein [4][Gesetz gegen | |
„Sozialmissbrauch“], obwohl Daten dazu fehlen oder – soweit sie vorliegen… | |
diese nur belegen, dass „Sozialmissbrauch“ durch Einwanderer aus dem | |
südöstlichen Europa, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU | |
Gebrauch machen, statistisch seltener vorkommt als der Missbrauch der | |
Sozialsystem durch Deutsche. Dessen ungeachtet werden Einwanderer aus | |
Südosteuropa pauschal und präventiv unter Generalverdacht gestellt. | |
## Schlampige Flüchtlingspolitik | |
Stigmatisierung, Diskriminierung und Kriminalisierung diktieren auch den | |
Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, die es trotz des EU-Grenzregimes | |
und der rigorosen Abschiebepraxis nach Europa geschafft haben. Richtig ist, | |
dass die Zahl von Flüchtlingen und Asylbewerbern angestiegen ist. | |
Aber die deutsche Antwort darauf, die Lager – der abschreckenden Wirkung | |
halber – nicht der Zahl der darin Untergebrachten anzupassen, sondern sie | |
regelrecht verkommen zu lassen, unterschreitet das zivilisatorische | |
Mindestniveau an Solidarität. Jeder Landkreis und jedes Bundesland agiert | |
bei innerdeutschen Unfällen, Notlagen und Katastrophen professioneller und | |
effizienter als die schlampige deutsche Flüchtlings- und Asylpolitik. Diese | |
kennt nur einen doppelten Imperativ: Menschen möglichst bald wieder | |
abschieben! Oder besser: gar nicht erst hereinlassen! | |
Um Letzteres zu ermöglichen, lockerte die Bundesregierung sogar das | |
geltende Waffenausfuhrverbot im Schweinsgalopp. Statt Menschen in Not aus | |
dem Nordirak und Syrien großzügig zu helfen und diejenigen von ihnen, die | |
nach Deutschland möchten, aufzunehmen, liefern „wir“ jetzt Waffen ins | |
Bürgerkriegs- und Notstandsgebiet. Dass ist etwa so rational und human, wie | |
Menschen, die in Wüstenregionen von Hunger und Durst bedroht sind, mit | |
Skistöcken und Schwimmwesten auszustatten. | |
Nur unter dem Druck der Opposition von Grünen und Linken ließ sich die | |
Bundesregierung darauf ein, das Parlament zu einer Sondersitzung | |
zurückzurufen, um über die Aufhebung des Waffenausfuhrverbots in | |
Spannungsgebiete zu beraten. Formaljuristisch entscheidet zwar die | |
Bundesregierung allein über die Waffenausfuhr, aber es gleicht einer | |
Selbstdemontage des Parlaments, dass es sich dazu hergab, bei der Farce als | |
Statist mitzuwirken – mit einem für die Entscheidung ganz bedeutungslosen | |
Entschließungsantrag. Das oberste Vertretungsorgan des Souveräns | |
banalisierte sich selbst zur dekorativen Kulisse im Polit-Theater. | |
## Willige Selbstdemontage | |
Die verbreitete These, die wirtschaftlichen und politischen Eliten | |
betrieben im Schulterschluss mit dem verkommenen Mainstream des medialen | |
Betriebs den Umbau der Demokratie zu einer Postdemokratie, mag für das | |
Berlusconi-Italien oder das Sarkozy-Frankreich eine gewisse Plausibilität | |
beanspruchen. Hierzulande deutet es mehr auf eine Selbstdemontage der | |
Parteiendemokratie hin. Eine überwältigende Mehrheit des Bundestags wirkte | |
willig mit bei seiner Selbstabdankung und räumte dem Koalitionsfrieden und | |
dem Koalitionsvertrag mehr Bedeutung ein als der demokratischen | |
Legitimation, der parlamentarischen Verantwortung und dem Grundgesetz | |
zusammen. | |
Bei den jüngsten [5][Landtagswahlen in Sachsen] verabschiedete sich über | |
die Hälfte des Souveräns in die Bedeutungslosigkeit und ging gar nicht erst | |
zur Wahl. Jeder Zehnte der noch Wählenden entschied sich für die | |
nationalistisch und wohlstandschauvinistisch orientierte „Alternative für | |
Deutschland“. | |
Auf Bundes- wie auf Landesebene wird die Entmachtung und Delegitimierung | |
nicht „postdemokratisch“ von oben und von außen auferlegt, sondern | |
freiwillig vollzogen. Demokratie und Verfassung werden dabei nicht | |
kassiert, aber entkernt oder verdünnt. | |
7 Sep 2014 | |
## LINKS | |
[1] /Artikel-Suche/!s=Maut/ | |
[2] /Krieg-in-der-Ostukraine/!145534/ | |
[3] /Kampf-gegen-den-Islamischen-Staat/!145539/ | |
[4] /EU-Einwanderer-in-Deutschland/!144951/ | |
[5] /Landtagswahlen-in-Sachsen/!145169/ | |
## AUTOREN | |
Rudolph Walther | |
## TAGS | |
Deutschland | |
Parlament | |
Politik | |
Maut | |
Syrien | |
Ukraine | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Somalia | |
Russland | |
Ukraine | |
Wolfgang Schäuble | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Oppositioneller über Zukunft Syriens: „Wir brauchen Israel“ | |
Die Opposition muss sich säkularisieren. Dabei können Liberale aus Israel | |
helfen, sagt der syrische Intellektuelle Kamal Allabwani. | |
Ex-US-Botschafter über Ukraine-Krise: „Das ist ein Familienstreit“ | |
Putins aktuelle Politik ist die Folge von Provokationen des Westens, sagt | |
Jack Matlock, ehemaliger US-Botschafter in Moskau. | |
Deutscher Islamist im engeren IS-Zirkel: Ex-Rapper rekrutiert Nachwuchs | |
Der Berliner Denis Cuspert hat Karriere bei der Terrormiliz „Islamischer | |
Staat“ gemacht. Das geht aus einem Bericht von Verfassungsschützern hervor. | |
Shabaab-Miliz hat neuen Anführer: Anschläge geplant | |
Die islamistische Shabaab-Miliz ernennt einen Nachfolger für den getöteten | |
Godane. Der somalische Präsident bietet den Extremisten eine Amnestie an. | |
Krieg in der Ukraine: „Ein Konflikt wie die Kubakrise“ | |
Trotz Waffenruhe: Moskau könnte versucht sein, im Kampf um die Ostukraine | |
auch Atomwaffen einzusetzen, meint Historiker Dmitri Trenin. | |
Konflikt in der Ukraine: Feuerpause geht in ihren zweiten Tag | |
Die Konfliktparteien in der Ostukraine haben die vereinbarte Waffenruhe | |
weitestgehend eingehalten. Nun soll ihm ein „stabilerer Charakter“ | |
verliehen werden. | |
Umstrittene Maut-Pläne von Dobrindt: Schäuble hat eigene Vorstellungen | |
Der Finanzminister möchte laut „Spiegel“, dass künftig alle Autobahnnutzer | |
abkassiert werden. CSU-Chef Horst Seehofer ist wegen der CDU-Kritik an der | |
Maut gereizt. |