# taz.de -- Die Wahrheit: Schotten mit Stockholm-Syndrom | |
> Selbst Söhne liebende Mütter sind nicht zu kurieren von einem Übel, dass | |
> vor 307 Jahren in New Caledonia seinen Ursprung hatte. | |
Bild: Schottische Folklore im Herzen Westminsters. | |
Am Freitagmorgen in einem kleinen Café in der Rose Street in Edinburgh. Am | |
Nebentisch sitzt ein völlig übernächtigt aussehender junger Mann mit seiner | |
Mutter, die im Gegensatz zu ihm wie aus dem Ei gepellt wirkt. „Junge, du | |
siehst furchtbar aus“, meint sie. Kein Wunder, entgegnet der Sohn, | |
schließlich habe er die Nacht auf dem Calton Hill am Rande der Innenstadt | |
verbracht und vergeblich auf die Party gewartet, weil ihn keiner informiert | |
hatte, dass das Referendum über Schottlands Unabhängigkeit schon um vier | |
Uhr nachts entschieden war. | |
„Wir haben verloren, Mutter“, sagt er. Die Mutter schaut betreten zu Boden, | |
so dass der Sohn misstrauisch nachhakt: „Du hast doch Ja gestimmt, wie du | |
versprochen hast?“ – „Doch“, antwortet die Mutter, aber es klingt nicht | |
überzeugend. „Oder hast du deinen Bruder getroffen?“, fragt er. Ja, Onkel | |
Ben sei bei ihr gewesen, räumt die Mutter ein. „Vor oder nach der | |
Stimmabgabe?“ Er habe sie zum Wahllokal gefahren. | |
Der Sohn heult auf: „Dein Bruder ist Unionist, er leidet wie 55 Prozent | |
aller Schotten unter dem Stockholm-Syndrom. Das haben Wissenschaftler heute | |
früh festgestellt.“ Es wirke sich so aus, dass die Menschen sich mit den | |
Engländern identifizieren, von denen sie vor 307 Jahren als Geiseln | |
genommen wurden. Sie können dann nicht mehr unterscheiden, ob ein Politiker | |
lügt, und sie nehmen es für bare Münze, wenn ein Lackaffe mit Oxford-Akzent | |
behaupte, er liebe Whisky, Dudelsäcke und karierte Röcke. | |
„Hat dich Onkel Ben etwa überredet“, fragt der Sohn, „Nein zu stimmen?�… | |
sei doch immer sehr nett gewesen, weicht die Mutter aus. „Zur Kommunion hat | |
er dir hundert Pfund geschenkt.“ Das Geld könne er zurückhaben, sagt der | |
Sohn. „Diese Natter hat dich eingewickelt. Mir hast du eben noch | |
versichert, du habest Ja gestimmt.“ Habe sie auch, antwortet die Mutter | |
trotzig. Also kein Nein? | |
## Klotzkopf | |
„Doch“, meint die Mutter, der die Sache sichtbar zunehmend peinlich wird. | |
Das dürfe bitte nicht wahr sein, sagt der Sohn, der inzwischen noch viel | |
übernächtigter aussieht. Seine Freunde hatten sich über den Klotzkopf | |
lustig gemacht, der Ja und Nein angekreuzt hatte. Nach Bekanntgabe des | |
Ergebnisses in jedem der 32 Wahlkreise wurde auch verkündet, wie viele | |
Stimmen ungültig waren – und aus welchem Grund. | |
„Du bist diejenige, die beides angekreuzt hat“, stöhnt der Sohn. Aus diesem | |
Grund sei ihre Stimme gar nicht für ungültig erklärt worden, sagt die | |
Mutter beleidigt. Sie sei aussortiert worden, weil sie nicht anonym gewesen | |
sei. „Nicht anonym“, ruft der Sohn, „was soll das denn heißen?“ Nun, s… | |
habe auf dem Stimmzettel vermerkt, dass ihr Sohn sie zum Ja überredet habe, | |
während ihr Bruder ein Nein bevorzuge. | |
Deshalb habe sie beides angekreuzt, und der Wahlleiter möge sich eine | |
Antwort aussuchen. Ihr sei das jetzt egal. Dann habe sie den Wahlzettel | |
unterschrieben und ihre Telefonnummer darunter gesetzt, falls der | |
Wahlleiter nachfragen wollte. „Mutter, du kommst ins Heim“, entscheidet der | |
Sohn. „Und ich wandere aus. Nach Glasgow.“ | |
22 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Ralf Sotscheck | |
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