# taz.de -- Kurden flüchten vor IS in die Türkei: An der Grenze zum Terrorsta… | |
> Immer mehr syrische Kurden flüchten vor den IS-Milizen in den | |
> Nachbarstaat Türkei. Bewaffnete Kämpfer nehmen den umgekehrten Weg. | |
Bild: Türkisch-syrische Grenze: eine kurdische Familie in Sanliurfa. | |
ISTANBUL taz | Aufgeregt zeigt der Reporter des türkischen Fernsehsenders | |
NTV in Richtung syrische Grenze. Mit bloßem Auge ist dort in einem | |
Grenzdorf die Schwarze Flagge des sogenannten Islamischen Staates (IS) zu | |
sehen. Das Dorf liegt sechs Kilometer von der syrischen Provinzhauptstadt | |
Kobane (arabisch Ain al-Arab) entfernt, wohin sich bis zu 450.000 Kurden | |
vor den Angriffen der IS-Milizen geflüchtet haben. Sollten die Terroristen | |
auch Kobane erobern, würden wohl weitere hunderttausend Menschen versuchen, | |
sich auf der türkischen Seite der Grenze in Sicherheit zu bringen. | |
Nach Angaben kurdischer Kämpfer konnte ein IS-Angriff in der Nacht zum | |
Montag zwar zunächst gestoppt werden, doch die Kämpfe dauern an. In Ankara | |
herrscht höchste Alarmstimmung, am Montag traf sich der Nationale | |
Sicherheitsrat. In New York wollte sich der UN-Sicherheitsrat am Abend mit | |
der Lage in den syrischen Kurdengebieten beschäftigen. | |
Nach Angaben der Vereinten Nationen sind mittlerweile 130.000 kurdische | |
Flüchtlinge aus der Region um Kobane in die Türkei geflüchtet. Die meisten | |
von ihnen wurden von Verwandten, Freunden und Bekannten auf der türkischen | |
Seite der Grenze abgeholt und privat untergebracht. Diejenigen, die keine | |
Bleibe finden konnten, werden in Schulen der Kleinstadt Suruc, zehn | |
Kilometer von der Grenze entfernt, provisorisch versorgt. | |
Die türkische Armee hat den Durchlass für die kurdisch-syrischen | |
Flüchtlinge seit Sonntagnachmittag stark reglementiert und eingeschränkt. | |
Statt vorher acht, gibt es nur noch zwei Durchgänge, an denen die | |
Flüchtlinge durchsucht und überprüft werden, bevor sie in die Türkei | |
einreisen dürfen. | |
## Tränengas und Polizeiknüppel | |
Am Wochenende hatte die Armee angesichts des Ansturms die Kontrolle | |
zeitweise verloren. Kurden von beiden Seiten überquerten die Grenze, die | |
einen, um sich zu retten, die anderen, um Hilfsgüter oder militärische | |
Ausrüstung von der Türkei nach Kobane zu bringen. Ab Sonntag schritt die | |
türkische Armee gewaltsam ein. Alle Zivilisten wurden unter Einsatz von | |
Tränengas, Wasserwerfern und Polizeiknüppeln aus einem mehrere Kilometer | |
breiten Grenzstreifen vertrieben. Seitdem werden Flüchtlinge aus Syrien nur | |
noch nach strengen Kontrollen durchgelassen. | |
Anlass dafür war offenbar der Grenzwechsel von Kämpfern der kurdischen PKK | |
aus der Türkei nach Syrien. Aus Diyarbakir und anderen kurdischen | |
Großstädten im Südosten reisten Tausende PKK-Anhänger nach Urfa und Suruc, | |
um an die Grenze gegenüber von Kobane zu gelangen. In der Nacht zum Montag | |
kam es in den am nächsten liegenden türkischen Großstädten Mardin, Urfa und | |
Gaziantep zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Kurden auf der einen | |
und Polizei und Gendarmerie auf der anderen Seite. | |
Am Montagmorgen veröffentlichte die PKK-Führung in Europa dann noch einen | |
Appell mit dem Tenor „Es gibt im Widerstand keine Grenze mehr“ und forderte | |
ihre Anhänger auf, zum Kampf gegen die IS-Terroristen nach Syrien zu gehen. | |
Die PKK-Führung wirft der türkischen Regierung vor, sie würde mit der | |
IS-Miliz „kollaborieren“, damit die Islamisten die kurdischen | |
Autonomiezonen in Syrien vernichten. | |
Tatsächlich gibt es immer wieder Berichte über türkische Waffenlieferungen | |
an den IS oder humanitäre Unterstützung für die IS-Miliz. So berichten | |
Reporter der unabhängigen linken Zeitung Birgün am Montag, sie hätten in | |
Gaziantep eine inoffizielle Klinik der Dschihadisten gefunden, die dort mit | |
stillschweigender Billigung der Stadtverwaltung von Gaziantep in diesem | |
Jahr schon 700 verwundete IS-Kämpfer behandelt habe. | |
## Kein Interesse an zusätzlichen Flüchtlingen | |
Auch die Freilassung von 46 türkischen Geiseln, die der IS in seiner Gewalt | |
hatte, wirft viele Fragen auf. Einige Kommentatoren in regierungskritischen | |
Blättern mutmaßen, der türkische Geheimdienst könnte IS mit Informationen | |
über die Stellungen ihrer Gegner versorgt haben, weshalb die IS-Milizen | |
gegen die erprobten Kämpfer der Kurden in den letzten Tagen so erfolgreich | |
gewesen seien. | |
Andererseits kann die Türkei wenig Interesse daran haben, zusätzlich zu den | |
bereits 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen erneut mehrere hunderttausend | |
vertriebene syrische Kurden aufzunehmen. Der stellvertretende | |
Regierungschef, Numan Kurtulus, sprach von einem bevorstehenden „Worst | |
Case“, wenn Kobane in die Hand der IS-Terroristen fiele und dadurch eine | |
neue Flüchtlingswelle ausgelöst würde. | |
Dazu kommt, dass die Nato-Verbündeten von der Türkei jetzt, nach der | |
Freilassung der türkischen Geiseln aus der Hand der Terrormiliz, erwarten, | |
dass sie sich aktiver am Kampf gegen IS beteiligt. Der türkische Präsident | |
Erdogan befindet sich anlässlich der UN-Vollversammlung in New York und | |
führt dort auch Gespräche mit US-Vertretern. | |
Nach unbestätigten Informationen türkischer TV-Sender ist die amerikanische | |
Airbase im südtürkischen Incirlik am Montag in Alarmbereitschaft versetzt | |
worden. Bislang hatte die Türkei die Genehmigung zum Einsatz der dort | |
stationierten US-Kampflugzeuge gegen den IS verweigert. Möglicherweise | |
ändert Erdogan seine Meinung und gibt nun grünes Licht, damit | |
US-Kampfflugzeuge erstmals von Incirlik aus in Syrien eingreifen und die | |
IS-Verbände vor Kobane ins Visier nehmen können. | |
22 Sep 2014 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Türkei | |
Syrien | |
„Islamischer Staat“ (IS) | |
Flüchtlinge | |
Kurden | |
Schwerpunkt Kobanê | |
Schwerpunkt Türkei | |
Barack Obama | |
Luftangriffe | |
Irak | |
Syrien | |
PKK | |
Schwerpunkt Türkei | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Journalisten im Krisengebiet: Voll draufhalten | |
Schicksale von der türkisch-syrischen Grenze sind begehrt, journalistisches | |
Ethos scheint keine Rolle zu spielen. Doch nicht alle wollen sich damit | |
abfinden. | |
Kurdische Flüchtlinge in der Türkei: Exil im Staub | |
Tausende Kurden fliehen vor dem Terror des IS in Syrien. In ihrem wenigen | |
Gepäck haben sie grausame Geschichten aus dem Kriegsgebiet. | |
Kommentar Türkei und IS-Militärschläge: Nicht zu früh freuen | |
Wer den türkischen Präsidenten im Kampf gegen IS sieht, hat das | |
Kleingedruckte nicht gelesen: Erdogan will weder für Assad noch für die PKK | |
bomben. | |
Kommentar US-Luftangriffe auf IS: Es gab eine Chance für UN-Mandat | |
Die USA haben sich nicht einmal bemüht, ein UN-Mandat zu erhalten. Russland | |
kritisiert den Militäreinsatz, ist aber nicht glaubwürdig. | |
USA fliegen Luftangriffe gegen IS: Mit Assads Billigung | |
Gemeinsam mit arabischen Verbündeten greifen die USA Stellungen der | |
Dschihadisten in Syrien an. Damaskus wurde über den Einsatz vorab | |
informiert. | |
Kommentar IS-Vormarsch in Syrien: Die kleineren Übel | |
Assad hat den Dschihadisten in Syrien den Boden bereitet. Nun bietet er den | |
USA seine Hilfe an. Wie lässt sich der IS bekämpfen, ohne Assad zu stärken? | |
Kampf gegen IS in Syrien und Irak: PKK wirbt türkische Kurden | |
Während Steinmeier ein stärkeres Engagement in der Region ablehnt, geht die | |
PKK den umgekehrten Weg. Sie ruft ihre Anhänger zu den Waffen. | |
Furcht vor IS-Kämpfern: Syrische Kurden fliehen in die Türkei | |
Milizionäre des „Islamischen Staats“ bedrohen die syrisch-kurdische | |
Großstadt Kobane. 70.000 Flüchtlinge erreichen die Türkei. Nun ist die | |
Grenze zu. |