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# taz.de -- Forschung zur Lebenserwartung: Magie des Alters
> 100-Jährige sind heute agiler als 100-Jährige vor 100 Jahren. Und sie
> werden immer mehr. Warum? Ein kleiner Fisch kann das Rätsel lösen.
Bild: Selbstständig und fit: 100-Jährige.
Die Hoffnung liegt auf dem türkisen Prachtgrundkärpfling. Bis nach Afrika
ist Wilfried Briest dem zierlichen Fisch hinterher gereist. Der
Prachtgrundkärpfling, wegen seiner extravaganten Farbmusterung hierzulande
vor allem bei Aquarianern beliebt, hat eine der geringsten
Lebenserwartungen seiner Spezies. Er stirbt im Alter von nur drei Monaten.
Deswegen ist er für Briest, Forschungskoordinator am Leibniz-Institut für
Altersforschung in Jena, mit besonderem Interesse für hundertjährige
Menschen, so überaus interessant.
Warum stirbt der so früh?, will der Biochemiker und Physiologe Briest
wissen. Eine gängige Erklärung lautete lange: Der Prachtgrundkärpfling hat
sich perfekt an sein Umfeld, etwa in den Tümpeln Simbabwes, angepasst. Wenn
sie austrocknen, was angesichts der afrikanischen Hitze oft nur eine Frage
weniger Wochen ist, hat der Fisch längst gelaicht und ist verstorben.
Erst in der nächsten Regenzeit, wenn die staubtrockenen Senken sich wieder
mit Wasser füllen, schlüpfen seine Nachkommen. Ein sinnvoller Kreislauf.
Einerseits. Andererseits, das fanden Briest und seine Kollegen heraus,
stirbt der Prachtgrundkärpfling auch dann im Alter von nur drei Monaten,
wenn er im Aquarium gehalten wird – also ganz ohne Not.
Es muss also einen Grund jenseits der Lebensbedingungen geben, der
möglicherweise in der genetischen Ausstattung des Fischs zu suchen sei.
Also startete Briest vor sieben Jahren eine Expedition. Wenn alles gut
geht, wird sie bald ein Ergebnis liefern und eine Wissenslücke schließen.
Denn in Mosambik fand er 2007 tatsächlich einen verwandten
Prachtgrundkärpfling. Dieser starb nicht mit drei, sondern mit neun
Monaten, unabhängig von der Umwelt, in der er gehalten wurde.
Mittlerweile haben Briest und seine Kollegen die Kärpflinge mit den
unterschiedlichen Lebenserwartungen gekreuzt: Ihre Nachkommen leben bis zu
sechs Monate. „Wir wissen inzwischen gesichert für den
Prachtgrundkärpfling, dass es Gen-Regionen im Körper gibt, die für die
Kurz- beziehungsweise Langlebigkeit der Fische zuständig sind“. Er klingt,
als habe er einen Sechser im Lotto gelandet. „Derzeit sind wir bei der
Feinkartierung, welche Gene genau involviert sind.“
Doch, wenn diese Zusammenhänge für Fische erforscht sein werden – wie lange
dauert es dann noch, jene Gensequenzen zu identifizieren, die über die
individuelle Lebenserwartung des Menschen mitentscheiden? Es wäre ein
Meilenstein in der Altersforschung. Seit Jahrzehnten rätseln Biologen,
Demografen, Chemiker, Mediziner, Genetiker und Soziologen über die
Faktoren, die dazu beitragen, dass einige Menschen signifikant älter werden
als andere. Und dass es an verschiedenen Orten der Erde, die scheinbar
nichts miteinander zu tun haben, ganze Cluster extrem Hochaltriger gibt –
etwa auf Sardinien, in Kalifornien oder auf der japanischen Insel Okinawa.
Vor allem aber treibt die Wissenschaftler um, dass man viel zu wenig über
sie weiß. Weder über ihre genetische Ausstattung noch über ihre
Verhaltensweisen, ihre Einstellungen, Potentiale, Werte, Perspektiven,
Bedürfnisse. Unklar ist auch, was es für eine Gesellschaft bedeutet, wenn
es viele Hundertjährige gibt.
Was also lässt die Menschen so alt werden? Und vor allem: Warum werden
immer mehr Menschen so alt? „Die Kinder, die heute auf den Geburtsstationen
liegen, sind bereits die Bürgerinnen und Bürger einer Gesellschaft der
Hundertjährigen“, prognostiziert James Vaupel, Direktor des
Max-Planck-Instituts für demografische Forschung in Rostock. Laut dem
Datenreport des Statistischen Bundesamtes zu Bevölkerung und Demografie
2013, hat ein 2010 in Deutschland geborenes Baby eine Chance von 50
Prozent, hundert Jahre alt zu werden.
## Steigerung um 122 Prozent
Schon jetzt ist die Geschwindigkeit, mit der die Zahl der Hundertjährigen
in Deutschland wächst, frappierend: Zwischen 2000 und 2010 stieg sie nach
Angaben der Human Mortality Database von 5.937 auf 13.198, das entspricht
einer Zunahme von 122 Prozent.
Und ähnlich rasant geht es weiter: Pro Dekade erhöht sich ihre Zahl um mehr
als das Doppelte. Für Deutschland heißt das: Die Zahl der Hundertjährigen
wird zwischen 2010 und 2040 von damals 13.000 auf rund 140.000 gestiegen
sein.
Interessant ist dabei vor allem, wie der Zugewinn an Lebensjahren heute
zustande kommt: Bis 1920 nahm die Lebenserwartung vor allem zu, weil die
Sterblichkeit von Kindern und Jugendlichen beträchtlich sank. Inzwischen
geht die Verlängerung des Lebens dagegen zu fast 80 Prozent auf das Konto
einer sinkenden Sterblichkeit in der Klasse der über 65-Jährigen, erklärt
der Rostocker Demograf Rembrandt Scholz. Die Verlängerung der
Lebenserwartung finde am oberen Ende des Lebens statt. Und: Dank
medizinischem Fortschritt und günstigen Lebensbedingungen sei künftig zu
erwarten, dass die „gesunden Lebensjahre und die behinderungsfreie
Lebenserwartung“ weiter zunehmen würden. Kurz: Die Alten, sie werden in
Zukunft noch älter sein.
„Die demografische Revolution findet vom Ende der Lebensspanne her statt“,
schreibt die Projektleiterin der „Zweiten Heidelberger Hundertjährigen
Studie“, Daniela Jopp. Zwischen 2011 und 2013 untersuchten Jopp und vier
weitere Wissenschaftler, gefördert von der Robert-Bosch-Stiftung und der
Dietmar-Hopp-Stiftung, die Lebenswirklichkeit von rund 100 Hundertjährigen
in Süddeutschland.
Ihr Ergebnis: Die heutigen Hundertjährigen sind im Vergleich zu den
Hundertjährigen der vorhergehenden Dekade besser in der Lage, Dinge zu
erledigen, die für ihre Selbstständigkeit im Alltag von zentraler Bedeutung
sind: Viele von ihnen können noch telefonieren, Geldangelegenheiten allein
regeln oder Mahlzeiten zubereiten. Auch ist ihr kognitiver Status höher als
noch bei der Vergleichsgruppe zehn Jahre zuvor: Nur 41 Prozent der
Hundertjährigen leiden unter kognitiven Einschränkungen; bei den
Hundertjährigen, die Anfang der Nullerjahre untersucht worden waren, waren
es noch 52 Prozent gewesen.
Das hohe Alter ändert hingegen nichts an dem fundamentalen Wunsch der
meisten Menschen nach Eigen- und Selbstständigkeit. Als Faustregel gilt
dabei, so die Autoren der Studie: Wer insgesamt zufrieden ist mit sich und
seinem Leben und daneben psychologische Fähigkeiten wie Optimismus oder
Lebenswillen entwickelt hat, der schätzt nicht nur seine Lebensqualität
höher ein. Sondern der kann auch eigene körperliche oder geistige
Einschränkungen besser tolerieren.
## Erfahrungen aus Japan
Klassische soziodemografische Ressourcen wie Bildung oder Einkommen haben
dagegen kaum Einfluss auf die Lebenszufriedenheit von Hundertjährigen –
Titel oder Funktionen von einst verlieren offenbar mit zunehmendem
zeitlichem Abstand an Bedeutung. Die Wohnform dagegen ist bei allen ein
zentrales Thema: Hundertjährige, die mit anderen Familienmitgliedern
zusammenleben, sind zufriedener mit ihrem Leben. Immerhin 40 Prozent fühlen
sich einsam.
Die Heidelberger 100-Jährigen-Studie ist die einzige repräsentative ihrer
Art für Deutschland; doch auch sie basiert nur auf den Angaben von 95
Personen beziehungsweise ihrer Angehörigen. Das Bundesfamilienministerium
kündigte im September gegenüber der taz an, zeitnah mit einer eigenen
Untersuchung über 100-Jährige nachlegen zu wollen; derzeit sind aber nicht
einmal das Studiendesign geschweige denn die genaue inhaltliche
Stoßrichtung klar.
Erfahrungen, wie eine Gesellschaft mit einer vergleichsweise hohen Zahl
hochaltriger Menschen funktionieren kann, gibt es derzeit vor allem aus
Japan. „Als ich auf Miyako-jima ankam, hat mich am meisten überrascht, dass
es auf der ganzen Insel kein einziges Altersheim gab, dabei leben dort
50.000 Menschen“, erzählt die Berlinerin Annegret Wielandt. Drei Jahre lang
arbeitete Wielandt, inzwischen beschäftigt bei der japanischen Botschaft in
Berlin, während eines Austauschprogramms in der Dorfverwaltung der ländlich
geprägten Insel Miyako-jima, die zu der Region Okinawa gehört. Selbst die
sehr alten Menschen dort, beobachtete sie, hatten stets eigene Aufgaben,
manche betreuten Enkel und Urenkel, andere pflegten Vorgärten oder hüteten
Kälber und Ziegen. Die meisten lebten in Familienverbänden, wobei die
100-Jährigen, wenn möglich, einen eigenen Bereich hatten, in den sie sich
zurückziehen konnten.
Auch die Ernährung – traditionell besteht sie aus Muscheln, Algen, Fisch
und reichlich grünem Gemüse mit Bitterstoffen – könne eine Rolle spielen
bei der außergewöhnlichen Lebenserwartung der Menschen von Okinawa, sagt
Wielandt.
Gesicherte Kenntnisse hierzu fehlen freilich. Vorübergehend vertraten
Altersforscher auch schon mal die Annahme, Hungern könne sich positiv auf
die Lebenserwartung auswirken. Sie hatten das Ernährungsverhalten von Affen
studiert, dabei aber übersehen, dass nicht das Hungern an sich
ausschlaggebend war, sondern die Nahrungsqualität und -menge. Inzwischen
wurde die Hunger-Theorie auch wieder verworfen, weil ein
EU-Forschungsprojekt festgestellt hatte, dass der Hunger, den Kriegskinder
über Jahre erlitten hatten, jedenfalls negative Auswirkungen auf die
Hirnalterung hatte.
## „Alt“ wird bald älter sein
Eine Garantie, die magische Zahl 100 bei guter Gesundheit zu erreichen,
wenn man sich an bestimmte Regeln hält, gibt es nicht, bedauert der
Demograf Scholz: „Die individuelle Lebensspanne ist das Ergebnis eines
komplexen Zusammenspiels individueller Faktoren“.
Sie reichen von Ernährung und Bewegung über Lebensstil und Bildung bis hin
zur Möglichkeit, die Bedingungen der eigenen Arbeit mitzugestalten. Auch
die Lebensbedingungen in jüngeren Jahren wirken sich auf die
Lebenserwartung aus: So ist die Wahrscheinlichkeit, in Deutschland 100
Jahre alt zu werden, derzeit in den Großstädten Hamburg und Berlin am
größten – nicht, weil es sich dort fantastisch leben ließe. Vielmehr waren
die Lebensbedingungen in Norddeutschland vor 100 Jahren – anders als heute
– sehr viel besser als etwa in Bayern damals.
Die Genetiker um den Jenaer Biochemiker Wilfried Briest wiederum schätzen,
dass der Einfluss der Gene auf das Lebensalter zwischen 15 und 35 Prozent
liegen dürfte. Je älter eine Gruppe ist, desto größer ist der Anteil, den
die Gene an ihrer individuellen Lebenserwartung ausmachen. Konkret: Die
nahen Verwandten von Hundertjährigen haben eine größere Chance, die 100 zu
erreichen, als der Bevölkerungsdurchschnitt.
„100-Jährige sind aus einem anderen Holz geschnitzt“, sagt Briest.
Klassische Risikofaktoren wie etwa Rauchen oder Übergewicht führten nicht
unbedingt zu einer Lebensverkürzung, wenn Menschen bereits mit einer
bestimmten genetischen Ausstattung zur Welt gekommen seien. Umgekehrt heiße
das noch lange nicht, dass der Verzicht auf gesundheitsschädigendes
Verhalten und das Meiden von Risiken ein langes Leben garantiere, warnt der
Demograf Rembrandt Scholz: „Wenn es genetisch anders vorgesehen ist, hat
man keine Chance.“
Durch Genomstudien herauszufinden, an welchen „Langlebigkeitsgenen“ es
liegt, dass die eine Frau hundert wird und der andere Mann nicht, könnte
noch Generationen von Forschern beschäftigen. Ein erster Schritt könnte die
Enträtselung des Geheimnisses vom türkisen Prachtgrundkärpfling sein.
13 Oct 2014
## AUTOREN
Heike Haarhoff
## TAGS
Gesundheit
Forschung
Lebenserwartung
Gentleman
Familie
Holocaustüberlebende
Bevölkerung
Tiere
Generationen
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