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# taz.de -- 10-Jährige trifft 100-Jährige: Noch nicht mal ein Krückstock
> Unsere Autorin (10) hat Alice Undeutsch (100) besucht – in ihrem
> Fitnessstudio. Eine Jahrhundertbegegnung mit vielen Fragen, Sport und
> Tanz.
Bild: Treffen der Generationen: Autorin Lili Verseck und Alice Undeutsch
Ich habe mir eine hundertjährige Frau immer schmal und mit ganz wenigen
Haaren auf dem Kopf vorgestellt. Aber ich hatte natürlich noch nie eine
hundert Jahre alte Frau gesehen. Die gibt es ja nicht so oft. Und dann habe
ich Alice Undeutsch kennengelernt.
Wir haben uns in einem Fitnessstudio in Berlin getroffen. Das Fitnessstudio
war ein großer Raum mit vielen eigenartigen Geräten, die im Kreis standen.
Überall hingen pinkfarbene Bilder. Auch Alice Undeutsch hatte ein
pinkfarbenes T-Shirt an. Das macht man wohl so in diesem Fitnessstudio. Sie
trainiert hier regelmäßig.
Ich war total überrascht von ihr. Sie hatte noch nicht mal einen
Krückstock, und die Haare waren ganz voll, aber weiß. Und sie hatte zwar
sehr viele Falten, aber die haben sie nicht wirklich alt gemacht.
Eigentlich sah sie aus wie 70 oder 75. Also ungefähr so wie die anderen
alten Leute, die ich kenne.
Überrascht hat mich auch, dass sie uns gleich ihre ganze Familie
vorgestellt hat. Sie hatte Fotos von ihnen mitgebracht. Sie leben alle
noch. Also die meisten. Sie hat uns ihren Mann gezeigt. Der ist aber schon
über 20 Jahre tot. „Ein schöner Mann war das“, hat sie immer gesagt. Dann
zeigte sie uns ihre beiden Kinder, die noch leben, ihre vier Enkel und ihre
Urenkel. Sie trifft sie zu jeder Familienfeier.
An einem Gerät hat sie uns gezeigt, wie sie die Oberschenkelmuskulatur
trainiert und die Oberarmmuskulatur. Es war erstaunlich, wie gut sie das
konnte, ganz locker und entspannt. Sie hat gesagt, du musst jetzt auch mal
trainieren. Ich habe so einen Wackelstab ausprobiert. Das war ein komisches
Gefühl. Ich reite lieber oder spiele Hockey.
## Bomben im Krieg
Wir haben uns darüber unterhalten, wie es im Krieg war. Ich wollte
eigentlich gerne wissen, ob sie mal gehört hat, wie eine Bombe
eingeschlagen ist und was sie dann gefühlt hat und ob Freunde von ihr in
dem Krieg umgekommen sind. Ich wollte das wissen, weil ich finde,
Freundschaft ist ein wichtiges Thema. Aber da wollte sie irgendwie nicht
drüber reden. Sie kommt aus Dresden und meinte, sie hätte vom Krieg nichts
mitbekommen. Das glaube ich ihr aber nicht wirklich. In Dresden ist ja im
Krieg ganz viel passiert. Sie hat aber gesagt, dass ihre Familie in Dresden
ein Geschäft hatte und dass sie darin im Krieg gearbeitet hat und dass sie
deswegen nichts mitbekommen hat. Sie hat immer nur gesagt, ja nee, ich hab
davon gar nichts mitgekriegt.
Sie war nie ernsthaft krank, hat sie erzählt. Einen Schnupfen hat sie
natürlich schon mal gehabt, aber nichts wirklich Schlimmes. Ich habe mich
gefragt, wie sie das wohl geschafft hat. Aber sie hat nur gesagt: „Ich habe
eben immer gesund gelebt.“
Dann habe ich sie gefragt, wie es für sie war, als sie zehn Jahre alt war.
Erst mal hat sie die Frage nicht verstanden. Sie hat 17 verstanden. Und sie
hat erzählt, dass sie da einen Freund hatte und am Wochenende immer an eine
Talsperre gefahren ist, mit der Bahn, und abends sind sie zusammen über
einen See zurückgerudert. Dann hat sie mich gefragt, ob ich auch einen
Freund habe. Ich habe gesagt, ich bin doch erst zehn. Und dann hat sie mir
erzählt, wie es war, als sie zehn war. Das ist ja schon 90 Jahre her. Sie
war damals bei ihrem Opa, weil ihr Vater früh verstorben war, und hat ihrem
Opa bei der Arbeit geholfen. Er hat Heu und Stroh verkauft. Das war
wahrscheinlich in diesem Geschäft in Dresden.
## Immer nur Salat
Ich wollte auch gerne wissen, wie sie heute lebt. Sie hat erzählt, dass
wenn sie Wasserkästen braucht, dann bestellt sie sich das Wasser nach Hause
mit einer Kellerlieferung. Sie lässt sich die Wasserkästen bis in ihren
Keller tragen. Darüber hat sie viel geredet. Dass wir, wenn wir einmal alt
sind, das auch so machen sollen, und dass diese Kellerlieferung ganz
wichtig ist. Wie sie sich das Essen liefern lässt, hat sie nicht erzählt,
ich glaube, das Trinken war ihr wichtiger. Wahrscheinlich kauft sie das
Essen selber ein. Sie hat gesagt, dass sie nie kocht. Bei ihr gibt es immer
nur grünen Salat. Das ist, glaube ich, eine sehr gesunde Ernährung. Aber
irgendwann muss sie doch mal Hunger haben auf was anderes. Aber davon hat
sie nichts erzählt.
Ich will nicht so alt werden. Ich möchte nicht so lange allein sein. Denn
wenn ich hundert werde, heißt das noch lange nicht, dass meine Freunde und
meine Familie auch so alt werden. Und ich möchte nicht ohne sie leben. Ich
habe mir vorgestellt, wie es für die Frau ist, ihr Mann ist ja schon so
lange tot. Auch wenn sie ihre Familie oft sieht, sie lebt trotzdem allein.
Sie wirkte ganz zufrieden, aber ich kann mir das für mich nicht vorstellen.
Mit hundert lässt das Gedächtnis ja auch ein bisschen nach, deswegen hat
sie viele Fragen nicht beantwortet. Sie hat dann oft etwas anderes erzählt.
Wahrscheinlich hat sie die Fragen nicht richtig verstanden. Dafür konnte
sie aber noch tanzen. Sie hat das vorgemacht. Drei Schritte nach vorne,
eins, zwei, langsam, eins, zwei, drei, schnell. Und die Arme hat sie dazu
bewegt in Wellen. Ich würde nicht so tanzen, aber vielleicht hat man vor
hundert Jahren so getanzt.
12 Oct 2014
## AUTOREN
Lili Verseck
## TAGS
Generationen
Fitness
Altern
Familie
Holocaustüberlebende
Gesundheit
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