Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Buch über Menschenrechte: Die letzte Utopie des Westens
> Staatliche Menschenrechtspolitik zieht das Mehr-oder-weniger dem
> Entweder-oder vor. Das zeigt der Historiker Jan Eckel in einem neuen
> Buch.
Bild: Die Unterzeichnung der Schlussakte des KSZE-Vertrags 1975: Helmut Schmidt…
Julio de Peña Valdez, Gewerkschafter in der Dominikanischen Republik, wurde
1971 verhaftet. Er galt als Gegner des rechtsautoritären, von der CIA
unterstützten Regimes – das reichte, um im Gefängnis zu landen. Eine kleine
Organisation in London setzte sich für ihn ein. Sie schrieb Protestbriefe
an den Diktator. Mag sein, dass es günstig war, dass der nebenberuflich
schöngeistiger Literat war und nicht bloß als roher Gewaltmensch gelten
wollte. Die Kampagne hatte Erfolg. „Nach 10 Briefen gab man mir meine
Kleider zurück. Nach 50 bekam ich besseres Essen, nach 500 durfte mich
meine Frau besuchen, nach 5.000 wurde ich freigelassen“, sagte Valdez. Die
Organisation hieß Amnesty International, deren Verwandlung von einer etwas
chaotischen Gruppe von Idealisten in eine professionell gemanagte globale
Menschenrechtsorganisation etwa 1971 begann.
Menschenrechte gelten uns als Wert an sich. Sie sind, wenn auch nicht
verlässlich, eine Währung in der Außenpolitik geworden. Das ist nicht
selbstverständlich. Die UN verabschiedeten 1948 die Allgemeine Erklärung
der Menschenrechte – doch die waren in den Dekaden danach randständig. In
den antikolonialen Revolten nach 1945 spielten Menschenrechte, die auf das
Individuum unabhängig von Staat und Nation geeicht sind, keine Rolle. Von
Algerien bis Vietnam berief man sich eher auf das kollektive Recht der
Unterdrückten, sich zu befreien.
Der Aufstieg der Menschenrechte begann in den westlichen Metropolen nicht
zufällig, als die Verheißungen der Befreiungsbewegungen verblassten. Als
die Glücksversprechen des Marxismus, des Kollektiven und der
Geschichtsteleologie zerfielen, füllten handfeste Organisationen von
Amnesty bis zu Ärzte ohne Grenzen die Leerstelle. Menschenrechte sind,
einer Formulierung des US-Historikers Samuel Moyn zufolge, „die letzte
Utopie“ des Westens, eine Art sanfter, von allen totalitären
Zwangsbeglückungen gereinigter Traum von einer besseren Welt. Aber: Noch
die Abwendung vom Sakralen und Teleologischen verleiht dem Begriff etwas
Erhabenes, eine Aura von Bedeutung in einer profanen Welt.
Das klingt gut, zu gut. Im Namen der Menschenrechte ist viel Unheil
angerichtet worden. George W. Bush versprach 2004 vor der UN, dass es ihm
darum zu tun sei, „die Menschenrechte zu schützen und die Demokratie zu
fördern“. Kurz zuvor hatten US-Truppen, im Namen von Menschenrechten &
Demokratie, den Irak völkerrechtswidrig überfallen und die Region in ein
bis heute katastrophales Chaos gestürzt.
Kann man also schlussfolgern, dass ein so leuchtstarker, sinnstiftender
Begriff in die Hände von NGOs wie Human Rights Watch gehört und nicht in
die von Politikern, die damit nur Schindluder treiben?
## Die KSZE-Schlussakte von 1975
Das mag nahe liegen. Aber das Lautere und das Abgründige sind noch enger
verflochten. Das zeigt die 900 Seiten starke Studie „Die Ambivalenz des
Guten“, in der der Historiker Jan Eckel eine historische Tiefenbohrung
vornimmt und die verschiedensten Schichtungen des Begriffs erkundet. Anders
als Moyn gilt der Blick nicht nur der Ideengeschichte, sondern der
komplexen politischen Praxis. Menschenrechtspolitik im 20. Jahrhundert war
demnach „ein Neben- und Ineinander von Moral und Kalkül, von Vision und
Strategie, von Schutzbedürfnis und Machtambition, von idealistischem
Veränderungswillen und zynischer Verschleierung“.
Der vielleicht größte Erfolg der Menschenrechtspolitik verdankt sich keiner
Amnesty-Kampagne, sondern klassischer staatlicher Interessenpolitik, einem
zähen diplomatischen Ringen um Formulierungen, das dreitausend
Vorbereitungstreffen benötigte. Dieser Erfolg wäre ohne das Interesse einer
hochgerüsteten Diktatur, die Grenzen der von ihr unterworfenen
Satellitenstaaten zu befestigen, unmöglich gewesen. Genau das bekam die
Sowjetunion, als sie 1975 die KSZE-Schlussakte unterzeichnete. Dort war die
Unverletzlichkeit der Grenzen festgeschrieben – Mauer und Eiserner Vorhang
wurden rechtlich verbindlich nobilitiert. Moskau feierte den Vertrag als
Triumph. Im Westen hingegen zweifelten viele, ob der Deal Anerkennung des
Status quo gegen eine paar Lippenbekenntnisse für Menschenrechte brauchbar
war. Henry Kissinger fand es naiv, zu hoffen, man könne mit einem „Vertrag
von peripherer Bedeutung“ die Innenarchitektur der Sowjetunion
beeinflussen.
Doch genau das geschah. Die Bürgerbewegungen im Osten nutzten den
KSZE-Vertrag, um die eklatanten inneren Widersprüche der
realsozialistischen Regime bloßzulegen. Eckel erweitert dieses bekannte
Argument um einem originellen Dreh. Der KSZE-Vertrag hemmte wie fein
rieselnder Sand in den Machtzentralen die Repression. Die Reformer um
Gorbatschow nutzten internationale Verträge als Instrumente, um sich gegen
die Hardliner im Kreml zu wehren. Womöglich lässt sich der KSZE-Vertrag
sogar als erstes Wetterleuchten der sowjetischen Reformer deuten. In der
Phase der Perestroika wirkten die Menschenrechte wie eine Hefe. Die
KSZE-Schlussakte war gewiss nicht die Ursache der Selbstabwicklung des
Realsozialismus 1990. Aber sie war ein Enzym, das einen Prozess
katalysierte, der auch zum Stillstand hätte kommen können.
## Unter Ronald Reagan verkümmerte Menschenrechtsrhetorik
„Die Ambivalenz des Guten“ entfaltet ein präzises, umfassendes Panorama der
Menschenrechtspolitik von 1945 bis 1990. Dass Menschenrechte vom
unbeachteten Nischenthema zum Faktor globaler Realpolitik wurden, verdankt
sich demnach zwei Motiven. Der Westen begriff, dass Menschenrechte ein
brauchbares Instrument im Kalten Krieg waren. Und: Im Protest gegen
Pinochet, der 1973 in Chile geputscht hatte, formierte sich eine vitale,
schlagkräftige international agierende Bewegung, die von Kirchen über NGOs
und die UN bis zu Regierungen reichte.
Doch vom Aufstieg der Menschenrechte zu reden, ist eine missverständliche
Metapher. Denn sie suggeriert ein lineares Fortschreiten, in dem soziale
Bewegungen und Staaten immer erfolgreicher tyrannische Regierungen unter
Druck setzen. So war es nicht. Unter Ronald Reagan verkümmerte
Menschenrechtsrhetorik in den 80er Jahren zum Agitprop. Weil Verbrechen von
Verbündeten der USA stillschweigend geduldet wurden, ging das Besondere des
Menschenrechtlichen, der Universalismus, dabei zu Bruch.
Als Kontrastbild skizziert Eckel die linksliberalen, niederländischen
Regierungen der 70er Jahre, die eine moralbasierte Außenpolitik versuchten
und Pinochet, das Apartheid-Regime und Moskau gleichermaßen mit
Menschenrechtsansprüchen konfrontierten. Auch das ging nicht ohne
Zwiespältigkeiten und Kollateralschäden ab. Eckel zeigt luzide, dass sich
staatliche Menschenrechtspolitik generell im Graubereich des
Mehr-oder-weniger bewegt, nicht in der heroischen Logik des Entweder-oder.
Betrüblich ist gleichwohl, dass der kraftvolle Versuch der niederländischen
Linken, Real- und Moralpolitik zu fusionieren, vollständigem Vergessen
anheimgefallen ist.
## Menschenrechte als Matrjoschka
In jedem Fall erhellt dieser detaillierte Rückblick, gerade auf weniger
beachtete Institutionen wie Europarat und UN, dass wir es mit einem
facettenreichen Sujet zu tun haben. Seit der Katastrophe in Ruanda 1994 und
der menschenrechtliche Travestie der USA im Irak und Afghanistan sind
Menschenrechte mit der Debatte um Militäreinsätze verkoppelt. Das ist, wenn
man den Blick auf die ganze Geschichte weitet, nur ein wenn auch
spektakulärer Ausschnitt.
Menschenrechtspolitik tritt selten in Reinform auf, meist vermischt mit
anderen Interessen. Sie ist im Normalfall widersprüchlich, nicht nur bei
George W. Bush klaffen Anspruch und Wirklichkeit grotesk auseinander.
Der noch verwickeltere Widerspruch verbirgt sich in dem umfassenden
Geltungsanspruch selbst. Das Konzept der Menschenrechte ist ein Produkt
westlicher Aufklärung, der Revolte des aufstrebenden Bürgertums gegen den
Feudalismus. Sie formulieren einen universellen Geltungsanspruch, der den
Milliardär in Monaco ebenso umfasst wie das Straßenkind in Bombay oder die
indigene Bäuerin in den Anden.
Darin liegt etwas Doppelbödiges, trotz der mannigfachen Versuche, den Kanon
um soziale Rechte zu erweitern. Dem common sense im Westen gilt es als
Verletzung der Menschenrechte, wenn ein Gewerkschafter wegen seiner
politischen Überzeugung eingesperrt wird – nicht aber, wenn in Sweatshops
in Haiti Kinder unsere Jeans zusammennähen.
Menschenrechte ähneln einer russischen Matrjoschka. In jeder Figur, die man
entdeckt, steckt eine andere.
22 Oct 2014
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Menschenrechte
Amnesty International
Abgeordnetenhauswahlen 2016
Schwerpunkt Syrien
„Islamischer Staat“ (IS)
Wladimir Putin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Abschied von Berliner Piraten: Die Qual der Wahl
2011 zogen die Piraten mit fast 9 Prozent ins Parlament ein. 2016 werden
sie in Umfragen nicht mal mehr erfasst. Für wen können ihre einstigen
WählerInnen stimmen?
Historikerin über Pazifismus: „Die UNO ist leider schwach“
Die Historikerin Corinna Hauswedell über modernen Pazifismus in Zeiten von
IS und Assad, Gegengewalt und Doppelmoral.
Kolumne Macht: Mehr ist nicht drin?
Der UN-Sicherheitsrat muss sich auf eine gemeinsame Linie zum IS einigen.
Falls nicht, gibt es nur noch das Recht des Stärkeren.
Ost-Vermittler, Kreml-Versteher: Unterhändler mit zwei Seelen
Sein direkter Draht zu Wladimir Putin machte Alexander Rahr erst zum
Kanzlerberater. Und später dann zum Gazprom-Lobbyisten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.