| # taz.de -- Entführungen des „Islamischen Staats“: Verschleppt, verkauft, … | |
| > Die junge Jesidin Amscha war 25 Tage Gefangene des IS. Mit Hilfe eines | |
| > alten Sunniten, der sie als seine Tochter ausgab, gelang ihr die Flucht. | |
| Bild: Wurde verkauft und gefesselt: Amscha in einem Dorf bei Dohuk, Nordirak | |
| „Ich wünschte, ich wäre tot“, sagt Amscha mit monotoner Stimme. „In den | |
| letzten Wochen habe ich oft daran gedacht, mir das Leben zu nehmen.“ | |
| Während sie spricht, starrt sie auf den Boden. Die Finger mit den | |
| abgekauten Nägeln ziehen immer wieder nervös an einem Faden, der an ihrem | |
| Ärmel heraushängt. | |
| Die junge Jesidin wurde von den Dschihadisten des Islamischen Staates (IS) | |
| verschleppt und in der irakischen Stadt Mosul für umgerechnet 12 Euro | |
| verkauft. Wie ein Stück Vieh. Auf der verschrobenen religiösen Wertskala | |
| der Dschihadisten stehen Jesiden ganz unten, ihre Frauen gelten als | |
| legitime Beute im Kampf gegen die „Ungläubigen“. | |
| Zwischen den Sätzen streichelt Amscha über die Backe ihres Babys auf ihrem | |
| Schoß. „Das Kind und die Tatsache, dass ich ein weiteres in meinem Bauch | |
| habe, sind der einzige Grund, warum ich mich noch nicht aufgehängt habe, | |
| denn ohne mich könnten sie nicht weiterleben.“ | |
| Amscha erzählt völlig teilnahmslos. So als würde sie nicht über sich, | |
| sondern über irgendjemand weit Entfernten sprechen. Es gibt Erlebnisse, die | |
| sind zu viel für einen menschlichen Verstand und zu schwer für ein | |
| menschliches Herz. Deshalb schalten viele Betroffenen ihre Gefühle ab. | |
| Außenstehenden erzählen sie die eigene Geschichte wie eine Maschine: | |
| vollkommen eintönig und ohne Erregung. So, dass die Zuhörenden sich kaum | |
| vorstellen können, was die Erzählerin oder der Erzähler hinter sich hat. | |
| ## Zu Fuß auf der Flucht | |
| Dass Amscha überhaupt hier, in dem ärmlichen jesidischen Dorf in der Nähe | |
| der kurdischen Stadt Dohuk im Irak auf einer Matratze sitzen und ihre | |
| Geschichte erzählen kann, verdankt sie einer wundersamen Flucht nach einem | |
| 25-tägigen Albtraum: Als die IS-Dschihadisten am dritten Tag des Monats | |
| August ihr Dorf mit Mörsern beschossen und immer näher rückten, flüchtete | |
| Amscha mit einer Gruppe von Nachbarn. Nachts. Zu Fuß. Nach vier Kilometern | |
| trafen sie auf zwei Fahrzeuge mit schwer bewaffneten Männern. | |
| „Wir dachten es seien kurdische Peschmerga und wir seien gerettet,“ | |
| erinnert sie sich, „also liefen wir auf sie zu. Es war dunkel. Als wir die | |
| schwarzen Fahnen des IS sahen, war es schon zu spät.“ Dann ging es sehr | |
| schnell. „Sie trennten die Männer, die über 14 Jahre alt waren vom Rest der | |
| Gruppe und schossen ihnen einem nach dem anderen in den Kopf. Genau vor | |
| unseren Augen. Darunter waren mein Mann, mein Bruder, unser Vater und der | |
| Onkel“, erzählt sie. „Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren, aber an das | |
| Bild, als sie alle in ihrer Blutlache auf dem Boden lagen, erinnere ich | |
| mich genau.“ | |
| Dann wurde die überlebenden Frauen und Kinder in das benachbarte | |
| sunnitisch-arabische Dorf Siwa Scheich Kahdra gebracht, darunter Amscha, | |
| ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin. Ein paar Tage später | |
| transportierte man sie in die nahe Stadt Mosul, die von den Kämpfern des IS | |
| kontrolliert wird. In einem Saal wurden sie zusammengepfercht. Dort gingen | |
| bewaffnete IS-Kämpfer umher und begutachteten die Ware. „Sie haben uns | |
| überall angefasst und uns das Tuch von Kopf gerissen, manchen Frauen haben | |
| sie die Kinder weggenommen. Viele wurden geschlagen. | |
| Der Preis für die Frauen lag, je nach Alter und Schönheit, bei umgerechnet | |
| sechs bis zwölf Euro. Wer sich weigerte mitzukommen, wurde an den Haaren | |
| nach draußen gezogen“, berichtet Amscha. Zunächst wurde ihre Schwägerin | |
| „verheiratet“. Amscha benutzt dasselbe Verb wie die Dschihadisten. | |
| „Verkauft“ ist zu unerträglich, das Wort kommt nicht über ihre Lippen. | |
| Kontakt zur Schwägerin hat sie seitdem nicht wieder gehabt. | |
| ## Baby mit Waffe in der Hand | |
| Dann kam Amscha selbst dran. Sie wurde von einem bewaffneter Kämpfer aus | |
| Mosul gekauft. Der fesselte ihr die Arme auf den Rücken und zerrte sie | |
| zusammen mit ihrem Kind aus dem Saal in sein Haus irgendwo in der Stadt. | |
| Insgesamt waren Amscha und ihr Baby 25 Tage in Gefangenschaft. Vor ihrer | |
| Schwester, die während des Gesprächs mit im Zimmer sitzt, führt sie nicht | |
| näher aus, was in dieser Zeit geschehen ist. Nur, dass sie ständig | |
| geschlagen wurde. Dass ihr immer wieder gedroht wurde, dass sie an einen | |
| Syrer oder Saudi weiterverkauft würde, wenn sie sich nicht gefügig zeige. | |
| Dass ihr immer wieder ihr Kind weggenommen wurde. Und, dass die | |
| Dschihadisten dem Baby eine Waffe in die Hand gegeben hätten und zu ihr | |
| sagten, sie würden den Jungen der „wahren Religion“ zuführen. | |
| Den Entschluss zu fliehen fasste Amscha, als sie durch die verschlossene | |
| Tür ihres Gefängniszimmers hörte, dass man tatsächlich plane, sie an einen | |
| Syrer zu verkaufen. Der wolle sie ins syrische Raqqa bringen, in die | |
| inoffizielle Hauptstadt des IS-„Kalifats“. Wenig später kam einer der | |
| Männer in das Zimmer, gab ihr eine Tablette und sagte, sie solle | |
| runterschlucken. „Ich hatte Angst, dass es irgendwelche Drogen waren, die | |
| mich gefügig machen sollen. Ich habe sie vor ihren Augen in den Mund | |
| genommen und ein Glas Wasser getrunken. Doch die Tablette hatte ich die | |
| ganze Zeit unter der Zunge. Als sie weg waren, habe ich sie ausgespuckt.“ | |
| Dann wartete sie, bis es Nacht wurde und ihr Baby eingeschlafen war. Das | |
| Kind sollte auf keinen Fall schreien. Im Schrank fand sie eine eine Stange | |
| aus Eisen, mit deren Hilfe es ihr gelang, die Tür aufzubrechen. Dabei | |
| bemühte sie sich sehr, möglichst wenig Geräusche zu machen, denn draußen im | |
| Hof hatten es sich drei der Bewaffneten gemütlich gemacht. „Erst als ich | |
| sah, dass sie tief und fest schlafen, nahm ich vorsichtig mein Baby auf den | |
| Rücken und floh.“ | |
| ## Verkleidet mit Niqab | |
| Vier Stunden lang irrte Amscha durch die Straßen von Mosul. Aus Angst | |
| entdeckt zu werden, versteckte sie sich immer wieder. Schließlich sprach | |
| sie ein alter Mann an und fragte, was sie als Frau allein mit ihrem Kind | |
| nachts auf der Straße mache. In gebrochenem Arabisch – zu Hause wurde nur | |
| Kurdisch gesprochen – vertraute sich Amscha ihm an. Der alte Mann, der, wie | |
| sich später herausstellte, eine wichtige Persönlichkeit in der | |
| sunnitisch-arabischen Gesellschaft der Stadt war, nahm die junge Jesidin zu | |
| sich nach Hause. | |
| Vier Tage lange versteckte der Alte Amscha zwischen seinen Töchtern. „Das, | |
| was der IS hier anrichtet, hat nichts mit unserem Islam zu tun“, | |
| entschuldigte er sich bei ihr. Am Ende heckte der arabische Sunnit einen | |
| Plan zur Rettung der kurdischen Jesidin aus: Erst rief er bei Amschas | |
| Schwester im kurdischen Dohuk an und erklärte, dass Mutter und Kind in | |
| Sicherheit seien. Dann steckte er die Jesidin in islamische Kleidung | |
| inklusive dem Niqab, einen Vollschleier, der nur ihre Augen freiließ. | |
| Er gab ihr den Ausweis seiner verheirateten Tochter, ebenfalls Mutter eines | |
| Babys und machte sich mit Mutter und Kind auf den lebensgefährlichen Weg | |
| ins nordirakische Kirkuk. Die Stadt wird von Peschmerga kontrolliert, ragt | |
| aber wie eine Halbinsel in das vom IS kontrollierte Territorium hinein. Das | |
| macht Kirkuk zum einzigen Ort an dem man immerhin versuchen konnte, die | |
| Frontlinie zu überschreiten. | |
| Der letzte Posten der IS-Kämpfer wollte sie nicht durchlassen, auch mit dem | |
| Argument, dass ein paar hundert Meter weiter Peschmerga stünden, die auf | |
| sie schießen würden. Der alte Araber flehte den Posten an: Sein | |
| vermeintlicher Enkel habe Krebs und brauche dringend Medizin, die es nur in | |
| Kirkuk gebe. Nach vier Stunden gab der IS-Mann endlich den Weg frei. | |
| ## Sie hatten Glück. Niemand schoss | |
| Was dann folgte, was der gefährlichste Moment ihrer Flucht. Tatsächlich | |
| wird im Niemandsland zwischen beiden Seiten auf alles geschossen, das sich | |
| bewegt. Zwar hatte Amschas arabischer Begleiter versucht, zuvor telefonisch | |
| mit einigen Kontakten diesen Übergang nach Kirkuk mit den Peschmergas zu | |
| koordinieren. Aber weder der alte Mann noch die junge Jesindin wussten, ob | |
| das gelungen war. „Wir sind ganz langsam losgegangen. Dabei ging der Alte | |
| voran und wiederholte dabei immer wieder laut das islamische | |
| Glaubensbekenntnis.“ | |
| Sie hatten Glück: Niemand schoss auf sie. Doch als die Gruppe vor dem | |
| kurdischen Posten auftauchte, forderte dieser den alten Mann auf, sich | |
| auszuziehen. In den vergangenen Wochen hatten immer wieder | |
| Selbstmordattentäter versucht, sich und die Peschmerga am Posten mit | |
| Sprengstoffgürteln in die Luft zujagen. Der alte Mann erklärte aus der | |
| Ferne, dass er eine junge jesidische Frau dabei habe, diese zu ihrer | |
| Familie nach Kirkuk bringen möchte und dass er versucht habe, diese | |
| Übergabe mit den Peschmergas zu koordinieren. | |
| Offensichtlich war der Posten informiert. Telefonisch wurde einer der | |
| Verwandten, der bereits in Kirkuk wartete, herbeizitiert. Amscha wurde | |
| aufgefordert ihren Schleier abzulegen, damit ihre Familie sie | |
| identifizieren könne. Nach über drei Wochen Gefangenschaft beim IS und nach | |
| einer nervenaufreibenden aufregenden Flucht war die junge Jesidin wieder | |
| eine freie, wenngleich auch völlig traumatisierte junge Frau. | |
| „Während der Gefangenschaft habe ich oft gedacht, mich umzubringen, schon | |
| in dem Saal, in dem sie uns verheiratet haben“, wiederholt sie. In diesem | |
| Moment fließen dem hartgesottenen kurdischen Übersetzer, einem | |
| Journalisten, der oft von der Front berichtet hatte, die Tränen über das | |
| Gesicht. Es gelingt ihm kaum mehr, die Worte Amschas zu übersetzen. | |
| „Ich habe mir immer wieder gesagt, ich muss dafür sorgen, dass mein Kind | |
| nicht in die Hände dieser Verbrecher fällt und selbst zum Verbrecher wird | |
| und dass mein Sohn später weiß, wer sein Vater war und wer seine Mutter | |
| ist“, sagt Amscha. „Ich hatte keine Wahl, ich musste das einfach alles | |
| aushalten“, murmelt sie noch. Dann steht sie auf, nimmt ihr Baby und geht | |
| in ihr Zimmer. Das verlasse sie seit Wochen immer nur kurz, sagen die | |
| Verwandten besorgt und schütteln die Köpfe. Nur dieses eine Mal sei sie für | |
| das Gespräch länger geblieben. Es war ihr wichtig, sagen sie, der Welt da | |
| draußen wenigstens einmal ihre Geschichte zu erzählen. | |
| 25 Oct 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Karim El-Gawhary | |
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