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# taz.de -- Ruandische Autorin über ihr Land: „Ethnien spielen keine Rolle m…
> Scholastique Mukasonga verlor während des Genozids in Ruanda einen
> Großteil ihrer Familie. Die Autorin spricht über ihre Kindheit und das
> Ruanda von heute.
Bild: 7.4.2014: Gedenkveranstaltung an den Genozid vor 20 Jahren im Stadion von…
taz: Frau Mukasonga, Sie sind in Ruanda aufgewachsen, bevor Sie 1973 mit
Ihrer Familie ins Exil nach Burundi vertrieben wurden. Ist die Erinnerung
an das Ruanda Ihrer Kindheitsjahre heute von der Erfahrung des Genozids
geprägt?
Scholastique Mukasonga: Ich trenne die zwei Geschichten, den Genozid und
meine Kindheit. Es sind gewissermaßen zwei getrennte Schubladen. Als
kleines Mädchen lebte ich mit meiner Familie in der ruandischen Stadt
Nyamata. Die Stadt war schon damals eine Art Sammelstelle, wohin viele
Tutsi deportiert wurden. Es gab viel Gewalt, viele Spannungen, und doch war
es für mich ein normales Leben mit meiner Familie. In meiner Jugend kam ich
auf ein katholisches Internat. Dort habe ich wirklich gelernt, was
Diskriminierung bedeutet.
Auch Ihr Roman „Die Heilige Jungfrau vom Nil“ spielt in einem katholischen
Mädcheninternat in den 1970er Jahren. Wie darf man sich das Leben einer
jungen Tutsi dort zu dieser Zeit vorstellen?
Die Schule wurde als Ort des Wissens, als Bildungsort der späteren Eliten
ausgegeben, aber in Wahrheit war es ein Ort der Propaganda. Im Roman gibt
es zum Beispiel einen Priester, der nicht den katholischen Glauben
unterrichtet, sondern in seinen Reden Hass und Segregation predigt. Es gab
überhaupt kein politisches Bewusstsein. Ich habe diese Mischung aus
Alltagsleben und schlimmer Diskriminierung damals erlebt. Sogar essen
mussten die Mädchen getrennt.
Waren die 1960er und 1970er Jahre in Ruanda also eine Art Brutzeit des
Hasses, der später im Genozid gipfelte?
In Nyamata, der Stadt, in der ich mit meiner Familie lebte, wurden die
Bedingungen für den Hass und den Genozid geschaffen. Dort wurden die Tutsi
erstmals als „Kakerlaken“ bezeichnet, was später eine gängige Bezeichnung
wurde. Das erklärt auch, warum die Gewalt so ausarten konnte, warum etwa
auch schwangere Frauen gefoltert und getötet wurden. Das kann man nur
verstehen, wenn man weiß, dass dem Genozid eine jahrzehntelange Propaganda
vorausging. Man hat die eigenen Nachbarn nicht mehr als Menschen
betrachtet, sondern als Insekten. Doch der wirkliche Grundstein für den
Genozid wurde natürlich noch früher gelegt.
In der Kolonialzeit.
Ja. Die Kolonialgeschichte hat eine wichtige Rolle gespielt, denn die
Belgier haben die Spaltung zwischen Hutu und Tutsi ja überhaupt erst
geschaffen. Ab 1930 stand in jedem Pass „Hutu“ oder „Tutsi“. Während d…
Genozids haben die Ausweise für die Organisation der Tötungen eine große
Rolle gespielt. Als Schriftstellerin interessieren mich diese Ursachen des
Genozids. Deshalb spielt die Kolonialzeit auch in meinem Roman eine große
Rolle. Sie war in den 1970er Jahren zwar vorbei, aber wurde fast nahtlos
durch die Entwicklungszusammenarbeit ersetzt. Zum Beispiel hat Belgien auch
Lehrer nach Ruanda geschickt als Entwicklungshelfer. Sie waren Mittäter der
Propaganda, denn sie waren da, hörten alles und haben nicht eingegriffen.
Fühlen Sie sich als Schriftstellerin in der Verantwortung, auf solche Dinge
aufmerksam zu machen?
Ich fühle vor allem eine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass Ruanda
weiterhin existiert. Meine Aufgabe ist es, eine Weise zu finden, das Land
wieder aufzubauen, Formen von Versöhnung zu finden. Dabei spielt die
Literatur eine sehr wichtige Rolle.
Inwiefern?
Mein Roman ist ein Versuch, auf ein Zusammenleben hinzuarbeiten, indem er
die Vergangenheit untersucht. Man muss das Leid in den Zusammenhängen, in
denen es passiert ist, betrachten. Die Literatur ist für mich ein Mittel,
mir über Dinge klar zu werden, Frieden zu finden. Doch es ist nicht nur
eine persönliche Bedeutung: Als ich für meinen Roman den Prix Renaudot
bekam, habe ich das nicht nur als Anerkennung für mich, sondern auch für
Ruandas Geschichte gesehen. Denn das Buch und sein Erfolg sind auch Belege
dafür, dass die Opfer eine Stimme haben dürfen und gehört werden, dass sie
weiterleben dürfen.
Welche anderen Formen gibt es heute, sich kreativ mit den Erinnerungen
auseinanderzusetzen?
Nach dem Genozid hat man sich darauf konzentriert, den Bezug zu einer
gemeinsamen Geschichte wieder herzustellen. Etwa wurde die Flechtkunst als
Nationalkunst Ruandas wiederbelebt, als gemeinsames kulturelles Erbe von
Hutu und Tutsi. Es geht darum, mit einheimischen Talenten das Land wieder
aufzubauen, die Würde der Ruander wieder herzustellen – und das nicht nur
mit ausländischer Hilfe.
Kehren Sie heute regelmäßig nach Ruanda zurück?
Seit 2004 fliege ich mindestens einmal pro Jahr nach Ruanda. Ich würde noch
öfter fahren, wenn ich könnte. Ruanda ist wieder meine Heimat geworden.
Wie empfinden Sie die Besuche in der Heimat, mit der Sie auch viel Leid
verbinden?
Es sind jedes Mal auch gemischte Gefühle dabei. Wenn ich in Kigali lande,
fange ich jedes Mal an zu schwitzen. Denn früher, als ich noch in Burundi
wohnte, arbeitete mein Mann für die französische
Entwicklungszusammenarbeit, und wir mussten einige Male über Ruanda
fliegen. Jedes Mal hatte ich damals Angst, im Flugzeug oder am Flughafen
ermordet zu werden. Doch dieses Gefühl der Beklemmung verfliegt heutzutage
meistens schnell, und dann freue ich mich sehr, wieder zu Hause zu sein,
meine Sprache, Kinyarwanda, zu sprechen. Endlich kann ich mit Stolz sagen,
dass ich Ruanderin bin.
Besuchen Sie bei Ihren Aufenthalten auch die Orte Ihrer Kindheit?
Ich fahre bei jedem Aufenthalt auch nach Nyamata, wo auch ein Großteil
meiner Familie ermordet wurde. Selbst heutzutage ist Nyamata noch die Stadt
der Toten, weil es dort nichts mehr gibt, keine Häuser, keine Menschen. Für
mich ist es wie eine Pilgerfahrt, ich muss da hin, aber ich muss mich jedes
Mal auch zwingen, zu fahren. Oft muss ich erst ein paar Tage Mut sammeln.
Was haben Sie für einen Eindruck von dem Ruanda von heute?
Heutzutage spielt die Unterscheidung der Ethnien keine Rolle mehr. Zwei
Millionen Menschen leben in der Hauptstadt Kigali und wissen nicht, ob ihre
Freunde Hutu oder Tutsi sind. Anders ist es auf dem Land, wo die alten
Strukturen manchmal immer noch eine Rolle spielen. Doch es gibt unter den
Überlebenden des Genozids keinen Hass und keine Rachegefühle, ähnlich wie
bei den Überlebenden des Holocaust.
Stimmt es, dass Täter, die mit dem Genozid zu tun haben, andere Kleidung
tragen müssen als andere Straftäter?
Nein, das bezieht sich nicht auf den Genozid. Alle Angeklagten, die noch
nicht verurteilt wurden, sind rosa gekleidet; orange gekleidet sind dagegen
die als schuldig verurteilten Menschen. Die Angeklagten, die noch nicht
verurteilt sind, sind nicht eingesperrt, sie können und müssen sich und
ihre Familien verpflegen. Es stimmt aber, dass es durch den Genozid so
viele angeklagte Mörder gibt, dass das Land größte finanzielle und
logistische Probleme bekommen würde, würde es alle hinter Gitter sperren.
Als ich 2004 das erste Mal wieder nach Ruanda reiste, brachte ich viel
Kleidung als Geschenk mit, auch viele rosafarbene T-Shirts. Das war ein
großer Fauxpas.
Dieses Jahr hat man sich weltweit an Ruanda 1994 erinnert. Haben Sie das
Gefühl, dass der Genozid in der kollektiven globalen Erinnerung angekommen
ist?
Definitiv. Als dieses Jahr im April die Erinnerungsfeierlichkeiten in
Kigali stattfanden, waren viele wichtige Akteure der internationalen
Gemeinschaft da, Tony Blair etwa und Ban Ki Moon, und haben sehr
zurückhaltend und betroffen Anteil genommen, ohne dass es eine offizielle
Einladung gegeben hätte. Es war wichtig für mich, das wahrzunehmen. Das
zeigt schon, dass es das Bewusstsein für eine gemeinsame Verantwortung
gibt. Während des Genozids haben sich die Opfer von der Welt im Stich
gelassen gefühlt. Das ist heute nicht mehr der Fall.
Dieses Gespräch wurde mit freundlicher Unterstützung des Institut Français
geführt.
2 Nov 2014
## AUTOREN
Carla Baum
## TAGS
Ruanda
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