# taz.de -- Roman über den Genozid in Ruanda: Nicht Monster, sondern Mensch | |
> Gilbert Gatore thematisiert in seinem Roman „Das lärmende Schweigen“ den | |
> Genozid in Ruanda. Er stellt bewusst Fragen, ohne sie zu beantworten. | |
Bild: „Das lärmende Schweigen“ ist die Auseinandersetzung von Tätern und … | |
Worte scheinen an das, was in Ruanda 1994 passiert ist, nicht | |
heranzureichen. Schweigen jedoch kann keinesfalls die Alternative sein. Das | |
hat Gilbert Gatore verstanden, und diese Erfahrung machen auch seine | |
Romanfiguren Isaro und Niko, jede auf ihre eigene, schmerzhafte Weise. | |
„Das lärmende Schweigen“ heißt Gatores Roman, und die deutsche Übersetzu… | |
des Titels scheint fast treffender als der französische Originaltitel „Le | |
Passé devant soi“ (in etwa: Die Vergangenheit, die vor uns liegt). Denn das | |
Schweigen über die Erfahrung des Genozids ist nicht still, es ist laut, | |
bedrohlich, lauert und schlägt irgendwann zu. | |
So wie bei Isaro, einer Studentin in Paris, die eines Morgens aus Versehen | |
ihr Radio lauter statt leiser dreht. Was sie hört, ist die Stimme eines | |
Nachrichtensprechers, der berichtet, in Ruanda gebe es nach dem Genozid so | |
viele Täter, dass es zwei oder drei Jahrzehnte dauern würde, um den Fall | |
jedes Häftlings zu überprüfen und Schuldige zu verurteilen. | |
Danach ist Isaros Leben nicht mehr dasselbe. Sie bricht ihr Studium, den | |
Kontakt zu ihren Freunden und ihren Adoptiveltern ab, die sie als Kind aus | |
Ruanda mit nach Frankreich genommen haben. Sie verfällt in eine tiefe | |
Krise, aus der das Vorhaben entsteht, ein Großprojekt namens „Zum Gedenken | |
an …“ zu starten, das möglichst vielen Ruandern einen Platz bieten soll, | |
ihre Erfahrungen von 1994 zu berichten und zu verewigen. Bald darauf reist | |
sie zum ersten Mal seit ihrer Rettung vor dem Genozid nach Ruanda. | |
## Flucht im Jahr 1994 | |
Parallel zu Isaro lernen die Leser Niko kennen, einen von Geburt an stummen | |
Mann, der sich in eine Höhle auf einer unbewohnten Insel inmitten eines | |
Sees zurückgezogen hat. Schnell wird klar, dass Niko nicht nur eine | |
überbordende Fantasie hat, die ihn bei aller Entrücktheit seiner Gedanken | |
liebenswert wirken lässt, sondern dass er auch ein vielfacher Mörder ist. | |
Erst am Ende des Romans wird die Vermutung bestätigt, dass die parallel | |
erzählte Geschichte eine Art Roman im Roman ist. Niko ist der Charakter, | |
den Isaro sich erfindet, um gedanklich zur Täterseite vorzudringen. | |
Dieser Einfall Gatores ist interessant, da er eine literarische | |
Verarbeitungsstrategie beschreibt: das Eindenken in Täter in einem | |
geschützten, fiktionalen Rahmen, um als Opfer wenn nicht abschließen, so | |
doch immerhin verstehen und mit den Erinnerungen leben zu können. | |
Es ist naheliegend, von der Nebeneinanderstellung der unterschiedlichen | |
Figuren Niko und Isaro auf Gatores eigene Biografie zu schließen. Als | |
Jugendlicher flüchtete er 1994 aus Ruanda vor dem Völkermord und lebt heute | |
in Frankreich. Nach dem Erscheinen des Romans in Frankreich 2008 wurde der | |
Autor unter anderem scharf dafür kritisiert, durch die Erfindung von Nikos | |
Figur einem Täter Empathie entgegenzubringen. | |
Auf der französischen Website Télérama behauptete ein Kommentator sogar, | |
Gatore sei der Sohn des von Interpol gesuchten Pierre Tegera, der für den | |
Tod von 349 Tutsi verantwortlich sein soll. Gatore sah sich damals | |
gezwungen, Stellung zu nehmen. Bestürzt berichtete er in einem Artikel über | |
die Flucht seiner Familie aus Ruanda. Alle möglichen Reaktionen habe er auf | |
seinen Roman erwartet, nicht aber eine solche. | |
## Keine Sympathie für Massenmörder | |
Dabei liest sich seine Beschreibung des Charakters von Niko gar nicht als | |
Sympathiebekundung für einen Massenmörder. Ganz im Gegenteil: Die | |
Menschlichkeit Nikos bedeutet für die Leser stets aufs Neue die | |
schmerzliche Erkenntnis, dass es keine abstrakten Monster waren, die 1994 | |
mordend durchs Land zogen, sondern Menschen mit Träumen, Gedanken, Gefühlen | |
und Erfahrungen. | |
Vordergründig gibt es in Gatores Roman viele Inkonsistenzen. Wie | |
wahrscheinlich ist es, fragt man sich etwa, dass eine junge Frau, die eine | |
Lebenskrise fast Selbstmord begehen lässt, die sich noch nie mit der | |
Geschichte ihres Herkunftslandes und ihrer Familie beschäftigt hat, ein | |
derart durchdachtes und fundiertes Projektvorhaben ausarbeitet? In einer | |
Szene spricht Isaro vor einer Stiftung vor und wirbt mit eloquenten Worten | |
um finanzielle Unterstützung. Kurz zuvor wird noch beschrieben, wie | |
verwahrlost sie nach Monaten des Einschließens aussieht und dass sie ihre | |
Tage mit nichts als Essen und Schlafen füllt. | |
Auch Nikos Geschichte wirft Fragen auf: Ein junger, ausgegrenzter Mann wird | |
plötzlich zum Mörder, wird sogar Anführer seiner Gruppe und erfährt zum | |
ersten Mal in seinem Leben Anerkennung. Ist diese Kausalbeziehung nicht ein | |
bisschen einfach? Gehört nicht mehr dazu, jahrelanges Brainwashing, das | |
Einimpfen einer kranken Ideologie, um Menschen zu kaltblütigen | |
Massenmördern zu machen? | |
Doch je weiter man liest, desto mehr dominiert das Gefühl, dass dieses | |
Reiben und Fragenstellen durchaus eine Intention des Autors sein könnte. | |
Denn im Roman selbst werden immer wieder Fragen aufgeworfen, deren Antwort | |
offengelassen wird: „Ist ein Mörder es nur exakt im Augenblick des Mordes? | |
Welche Strafe ist dem angemessen, was Niko und so viele andere wie er getan | |
haben?“ | |
## Eine Szene aus Fragen | |
Eine Szene, in der Isaro darüber nachdenkt, was der Besuch des Hauses in | |
ihr ausgelöst hätte, in dem ihre Familie ermordet wurde, besteht förmlich | |
aus Fragen: „Hätte sie ohne alles zerreißende Traurigkeit und Auflehnung | |
akzeptiert, dass neue Blumen auf jener Erde wachsen, wo sie das Blut der | |
Ihren hat fließen sehen, durch das sie auf ihrer Flucht gewatet ist? Hätte | |
sie dem Hass und der Verzweiflung, die sie überwältigt hätten, | |
widerstanden?“ | |
Auch die Erklärung dafür, dass auf die Fragen keine Antworten folgen, gibt | |
der Roman selbst. Sie steckt in dem einzigen Rat, den Nikos Vater ihm mit | |
auf den Weg gibt. Er solle niemals denen trauen, die Antworten haben. Niko | |
missachtet diesen Rat und schließt sich ausgerechnet denen an, deren allzu | |
deutliche Antworten aus purer Gewalt und Hass bestehen. | |
Wie zur Gegenwehr gegen diese Deutlichkeit ziehen sich die Ambivalenzen | |
zwischen Reden und Schweigen, zwischen Lärm und Ruhe, zwischen Fragen und | |
Antworten durch „Das lärmende Schweigen“. Die Verwirrung und Irritation, | |
die diese Mischungen beim Leser hervorrufen, klingen noch lange nach der | |
Lektüre nach. | |
1 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Carla Baum | |
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