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# taz.de -- Leipzig Dok-Filmfestival: Dies ist noch Delacroix
> Stasi, Ukraine und Dominoweltmeisterschaften: Das diesjährige
> Dok-Filmfestival Leipzig war toll, erschöpfend und verstörend zugleich.
Bild: Filmemacherin Elwira Niewiera wurde gemeinsam mit Piotr Rosolowski für d…
Das Leben als freier Autor ist schön. Eben noch in Hamburg, bei der
Verleihung des Ben-Witter-Preises an Helmut Höge, schwuppdiwupp, schon bin
ich in Leipzig auf dem 57. Dok-Filmfestival und schaue mir den neuen Film
„Striche ziehen“ des Berliner Regisseurs Gerd Kroske an und bin ganz
erstaunt, einen meiner Fußballkumpels im Film zu sehen.
Er gehörte zu den fünf Leuten aus der Weimarer Undergroundszene, die, von
der Stasi bedrängt, nach Westberlin ausreisten. Sie starteten 1986 die
Kunstaktion „Der weiße Strich“, bei der sie die gesamte Mauer auf der
Westseite mit einem weißen Strich bemalen wollten. Leider kamen
Grenzsoldaten durch eine versteckte Tür in der Mauer und nahmen einen der
Beteiligten fest. 2010 kommt heraus, dass es im Freundeskreis einen
Stasi-IM gab. Mit viel Super-8-Archivmaterial erinnert Kroske an die
Weimarer Undergroundszene, die ähnlich war wie im Westen.
Es geht um Verrat und Verräter. Und dass alles nicht so einfach ist. Als
die Kamera, auf Versöhnung hoffend, die Aussprache zwischen zwei Brüdern
beobachtet – der eine war im Knast, der andere IM (aber auch im Knast) –,
freut man sich, dass sie nicht stattfindet.
Zehn Jahre wurde an der Untertunnelung des Leipziger Marktplatzes
gearbeitet, nun ist alles fertig, wie ich sehe. Der Innenstadtbereich wirkt
so noch cleaner, also fertiger als zuvor. Auf einem riesigen beleuchteten
Plakat steht „Revolution ohne Gewalt – so geht sächsisch“. Der Spruch hat
etwas latent Aggressives.
## Das Verstehen erschweren
Wieder im Kino: Zwei Filme beschäftigen sich mit dem Maidan und der
gewalttätigen Revolution in der Ukraine. Sergei Loznizas gleichnamiger Film
beeindruckt dabei vor allem durch eine fast durchgehend eingesetzte
statische Kamera und lange, unkommentierte Einstellungen. In der von der
Bühne gefilmten Eingangsszene sieht man etwa tausend Münder die ukrainische
Nationalhymne singen. Das Pathos ist groß. Im Lauf der Zeit werden die
Sprechchöre chauvinistischer, das Geschehen gewalttätig. Eine
Polizeieinheit steht unbewegt und wird quälend lange von Demonstranten mit
Molotowcocktails und Steinen beworfen.
Nur ab und an gibt es zivile Bilder von den Volksküchen. Die offenen Särge
der Erschossenen werden durch die Menge getragen. Ein Priester sagt „Ich
bitte um eine Gedenkminute“. Die Menge ruft stattdessen „Ruhm den Helden“
und „Helden sterben nie …“
Lozniza hat täglich 14 Stunden am Maidan gefilmt, erzählt er bei einem
Podiumsgespräch. Die Aufgabe des Filmemachers sei es, das Verstehen zu
erschweren, insinuiert er. Die Moderatorin fühlt sich an Hieronymus Bosch
erinnert. – „Die nächste Revolution wird Sie an Bosch erinnern; dies ist
noch Delacroix.“
Lozniza glaubt nicht, dass die Regierung den Befehl dazu gegeben hat, die
zunächst friedlichen Studentenproteste Ende November durch Spezialeinheiten
der Berkut auseinanderzutreiben. „Man muss ja nicht schlau sein, um zu
wissen, was passiert, wenn Studenten in Kiew zusammengeschlagen werden.“
Der Einsatz führte bekanntlich dazu, dass die abflauenden Proteste
Massencharakter annahmen. „Aber wer hat dann wohl diesen Befehl gegeben?“,
stellt Lozniza die Frage rhetorisch in den Raum.
„Nach der Revolution beginnt der Krieg“, sagt Lozniza weiter. „Das so zu
sehen, finde ich ungerecht gegenüber den Jüngeren, die überall auf der Welt
rebellieren“, empört sich dagegen eine Berliner Friedensfrau.
Der zweite Maidanfilm, „All Things Ablaze“ (Ukraine) von Oleksandr
Techynski, Aleksey Solodunov und Dmitry Stoykov, ist noch härter. Die drei
jungen Regisseure, die zuvor als Fotografen, unter anderem für die FAZ,
gearbeitet hatten, sind äußerst nah am Geschehen. Zivile Szenen gibt es
kaum. Die Gewalt geht vor allem von Demonstranten (oder Provokateuren) aus.
Die beeindruckendste Szene, vielleicht des gesamten Filmfestivals, ist eine
sehr lange, quälende Sequenz, in der Demonstranten besinnungslos mit
Hämmern auf eine umgekippte Leninstatue einschlagen und ganz begeistert
sind, als sie die Statue umgedreht haben und so auch das Gesicht Lenins
zertrümmern können.
Siegerfotos werden tausendfach gemacht. Ein vielleicht 50-jähriger Mann mit
einer schönen schwarzen Fellmütze und den Gesichtszügen eines
Intellektuellen – die Figur des liberalen Humanisten Stepan Trofimowitsch
aus Dostojewskis „Dämonen“ im Grunde genommen – umarmt die Statue, will …
beschützen, sagt immer wieder: „Das ist Barbarei … Leute, ihr habt doch
eine friedliche Versammlung.“ Schließlich wird er weggeführt.
## Unpatriotisch, verstörend
Der Film ist komplett unpatriotisch und verstörend. Die Filmemacher sagen
im Gespräch, sie hätten ständig das Gefühl gehabt „something strange is
happening“. Ob sich der Aufruhr gelohnt habe? – „100 dead people lying on
the street – I don’t support that.“ Man ist ziemlich erledigt nach solchen
Filmen (es gab auch einen krassen über niederländische Dschihadisten) und
sehr dankbar, wenn man dann Filme sieht, die gut ausgehen.
Den wunderbaren „Domino Effekt“ von Elwira Niewiera und Piotr Rosolowski
zum Beispiel, der von der Dominoweltmeisterschaft in Abchasien erzählt und
von der Liebesgeschichte zwischen dem Sportminister der halbautonomen
Zwergrepublik und einer Moskauer Sängerin. Als bester deutscher Film wurde
„Domino Effekt“ mit einer Goldenen Taube ausgezeichnet.
Die beiden ebenfalls ausgezeichneten Filme „Toto and his sisters“
(Rumänien) und „Spartacus & Cassandra“ (Frankreich), erzählen auf
unterschiedliche Art von Romakindern, denen es gelingt, aus unerträglichen
Verhältnissen auszubrechen. Der schöne indonesische Film „Jalanan“ von
Daniel Ziv, in dem es um Musiker in Djakarta geht, die sich durch teils
bob-dylaneske Auftritte in Bussen nur so knapp über Wasser halten.
Wie jedes Jahr gab es auch in diesem einen neuen Zuschauerrekord (42.000
Besucher). Und wie immer ist man nach der sehr, sehr guten Dok-Filmwoche am
Ende etwas erschöpft.
3 Nov 2014
## AUTOREN
Detlef Kuhlbrodt
## TAGS
Leipzig
Dokumentarfilm
Filmfestival
Edward Snowden
Schwerpunkt Überwachung
Nordkorea
Regisseur
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