| # taz.de -- Erinnerung an den Fall der Mauer: Grenzen bleiben | |
| > Das Gedenken an die Mauer entlang der leuchtenden Ballons kann einem auch | |
| > schwerfallen - gerade, wenn man nach 1989 geboren wurde. | |
| Bild: Ist das Erinnerung? Und an wen oder was? | |
| Ich stehe an der Lichtgrenze und komme mir blöd vor. Bin ich jetzt im Osten | |
| oder im Westen? Um mich herum tummeln sich hunderte Menschen, fast alles | |
| Familien und ältere Paare und fotografieren, begleitet von „Ohh! und | |
| Ahhh!-Rufen, die Mauer aus leuchtenden Ballons. „Mami, guck mal, ich stehe | |
| im Osten und im Westen“, ruft ein kleines Mädchen, es steht in der Mitte | |
| zwischen zwei Ballons. „Nein!“, antwortet die sichtlich genervte Mutter, | |
| „hier ist alles Osten. Der Westen ist auf der anderen Seite der Spree.“ | |
| Aha, denke ich, Danke, Ma‘am. | |
| Die Lichtgrenze soll die „Dimension der Mauer ins Gedächtnis rufen“, so | |
| sagt es der Flyer. Ich bin mir sicher, dass ihr das gelingt: Bei den | |
| Menschen, die damals dabei gewesen sind. Ich dagegen bekomme nur Angst vor | |
| der Zukunft. | |
| Ich bin 1994 geboren, fünf Jahre nach dem Fall der Mauer. Für mich ist der | |
| Gedanke, dass hier noch vor 25 Jahren eine Grenze stand, kaum vorstellbar. | |
| Deswegen fällt es mir schwer, hier zu gedenken: Ein Zurückerinnern gibt es | |
| für mich nicht. Und wenn es das nicht gibt, dann ist der einzige Grund, an | |
| historische Daten zurückzudenken, der, dass man aus ihnen lernen möchte. | |
| Was lerne ich aus dem Mauerfall für die Zukunft? Nie wieder Sozialismus? | |
| Wohl kaum, in Zeiten des fortschreitenden Raubtierkapitalismus. Nein, die | |
| Lehre müsste sein: Nie wieder Überwachung! Nie wieder Tote an der Grenze! | |
| Aber genau diese Botschaft fehlt mir hier. Die rührseligen Politiker, die | |
| zum Tag des Mauerfalls ihre Reden schwingen, sind auch die, die an anderen | |
| Tagen eine stärkere Abschottung Europas fordern und die NSA-Affäre unter | |
| den Tisch kehren. | |
| Es geht nicht darum gleichzusetzen. Es geht darum, dass die Mauer meiner | |
| Eltern Vergangenheit ist. Die Mauer meiner Generation führt um Europa, | |
| nicht durch Deutschland. Der einzige meiner Freunde, der je über eine | |
| Grenze geflohen ist, ist mein Freund Mustafa, ein afghanischer Flüchtling. | |
| Auch die Stasi ist Geschichte. Die Überwachung meiner Generation verläuft | |
| digital, sie ist nicht spürbar. Aber sollte der Faschismus in Deutschland | |
| wieder aufsteigen, dann sind die Daten da, in einem Umfang, in dem sie kein | |
| früheres Regime hätte erheben können. Und was dann passieren könnte, davor | |
| schaudert mir. | |
| In Berlin löst sich die Lichtgrenze auf, die Ballons steigen in den Himmel. | |
| Mit meinem Mitbewohner schaue ich mir das Spektakel an, er kommt aus | |
| Sachsen, ich aus Bayern. Zwischen uns steht keine Grenze mehr. Wir sitzen | |
| auf einem Hügel in der Nähe unserer Wohnung, trinken ein Bier und schauen, | |
| wie die symbolische Grenze durch Deutschland davonfliegt. Die Mauer um | |
| Europa wird stehenbleiben. | |
| 9 Nov 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Laura Meschede | |
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