# taz.de -- Berlins Lichtergrenze zum Mauerfall-Jahrestag: Walking the wall | |
> 8000 Ballons symbolisierten am 9. November die Ost-West-Grenze. | |
> Hunderttausende sahen das Spektakel und einige erzählten ihre | |
> Mauer-Geschichten. | |
Bild: Ab und an ein Luftballon: nicht ganz der Effekt, den sich die Mauer-Besuc… | |
Über eine Million Mauer-Besucher folgen vom 7. bis 9. November der | |
Lichtergrenze von der Bornholmer bis zur Warschauer Straße – eine Linie aus | |
leuchtenden Ballons, die den Verlauf der Mauer von 1961 bis 1989 | |
nachbildet. Die Installation hat das Land Berlin initiiert. Jeder Ballon | |
bekommt einen Paten und damit eine Geschichte, denn viele der Paten haben | |
einst direkt an der Grenze gelebt, die Ost- von Westberlin trennte. Aber | |
nicht nur für sie ist die „Mauer“ Teil der eigenen Biografie. | |
Auf dem fünf Kilometer langen Mauer-Abschnitt vom Checkpoint Charlie bis | |
zur Oberbaumbrücke erzählen sich die Menschen ihre Grenz-Geschichten, ihre | |
Perspektive auf diesen besonderen Tag, den 9. November: ein Mauerspecht, | |
zwei Grenz-Jogger, eine Ballon-Diebin und eine Künstlerin, die Honecker | |
einen neuen Style verlieh. | |
Am Checkpoint Charlie lässt sich Juan Pablo einen Stempel für seinen Pass | |
geben. Der ehemalige Grenzübergang nimmt zum Mauerfall-Jubiläum wieder | |
seinen Betrieb auf. Juan darf nun offiziell die Grenze von Ost- nach | |
Westberlin übertreten. Der junge Mann ist durch Zufall in die | |
Feierlichkeiten geraten, kommt aus Venezuela und ist für eine Konferenz in | |
der Stadt. „Ein glücklicher Zufall. Ich finde es spannend, wie die | |
Deutschen diesen Tag begehen“, sagt er. | |
In der [1][Black Box Kalter Krieg] starten Michael, Ingo, Hannelore und | |
Rosi ihren Gang entlang der Lichtergrenze. Der Weg ist lang und die vier | |
essen erstmal ein Würstchen. Ingo erinnert sich kauend, wie er zusammen mit | |
Michael am Potsdamer Platz als Mauerspecht Stücke aus der Betonwand gehauen | |
hat. „Ich hab die Stücke dann in Beton gegossen. Sah ganz gut aus“, sagt | |
Michael. „Die Mauer-Brocken stehen heute noch auf unserem Kamin“, fügt Rosi | |
hinzu. | |
Steffen und Maureen gehören zur „Streckenleitung Ballonpaten“ und | |
kontrollieren regelmäßig die Lichtergrenze vom Checkpoint Charlie bis zur | |
Kommandantenstraße. Sie arbeiten für „SCC Events“, die unter anderm den | |
Berlin Marathon organisieren. Für 350 Ballons sind sie verantwortlich. | |
„Immer wieder fliegen welche weg oder gehen kaputt. Oder werden zerstört. | |
Wir erneuern die Ballons, damit sie um 19 Uhr in die Luft steigen können“, | |
erklärt Steffen. | |
Beatrice fällt auf. Sie läuft mit einem der riesigen Grenz-Ballons durch | |
die Gegend und zieht skeptische Blicke auf sich. „Junge Dame, die sind aber | |
nicht zum Mittnehmen da“, hätte sie heute schon mehrfach gehört, erzählt | |
Beatrice. Oder: „Schau mal, die fliegt heute Abend auch weg.“ Geklaut hat | |
sie ihn aber nicht! Der Ballon wurde ihr an der Engelsbrücke geschenkt. | |
Dort werden Ersatz-Ballons für die Lichtergrenze aufgeblasen. | |
Ronny hat früher im Osten gewohnt, Wolfgang im Westen. Heute sind die | |
beiden Nachbarn, Freunde und Joggingpartner. Normalerweise laufen sie | |
Marathons, gerade kommen sie jedoch von der Oberbaumbrücke und wollen | |
entlang der Lichtergrenze weiter in Richtung Mitte laufen. „Für uns hat die | |
Strecke schon eine besondere Bedeutung, schließlich würden wir hier nicht | |
zusammen entlanglaufen, stände die Mauer noch“, erzählt Wolfgang. | |
Familie Winde kommt aus Kleinmachnow in Brandenburg. Den Mauerspaziergang | |
machen sie, um ihren Kindern die Geschichte näher zu bringen. „Nur haben | |
die leider keine Lust. Sie finden die Luftballons nämlich nicht so | |
spannend“, sagt Astrid, die Mutter von Marisa und Elena. „Ich find's | |
langweilig“, sagt Marisa und möchte auch schon weiter gehen. „Dabei haben | |
wir sie gestern noch vorbereitet und ihnen Mauer-Bilder auf Youtube | |
gezeigt“, meint Andreas, der Vater. | |
Levent kommt extra aus Istanbul, um Bilder von der Mauer zu machen. Er | |
läuft seit drei Stunden mit seiner Kamera an derehemaligen Grenze entlang. | |
„Ich habe hier unter anderem Osman Kalin getroffen. Er ist 1983 als | |
türkischer Gastarbeiter nach Deutschland gekommen und lebt immer noch in | |
einer Holzhütte an der Mauer. Die Grenze verlief genau durch seinen Garten. | |
„Man erzählt sich, seine Tomaten hätte er im Osten angepflanzt“, sagt | |
Levent. „Sein Deutsch ist mittlerweile besser als sein Türkisch. Er hat | |
mich kaum noch verstanden.“ | |
Andreas kam vor dem Mauerfallals Ingenieur aus der Provinz nach Ost-Berlin | |
und hat direkt an der Mauer am Arkonaplatz gelebt. Er erzählt, wie er | |
einmal den Friedhof in der Nähe der Grenze besucht hat, um Vogelfutter für | |
seinen Papagei zu suchen. „Da kamen gleich zwei Polizisten und haben mich | |
gefragt, was ich hier suche. Drei Wochen später war ich zum Verhör | |
geladen“, erzählt Andreas. Während des Mauerfalls war er im Urlaub, bei | |
Verwandten in Moskau. „Ich hatte Angst, dass sie die Grenze wieder dicht | |
machen, bevor ich zurück bin.“ | |
Marlies von Soden ist Künstlerin. 1990 arbeitete sie als Kostümbildnerin | |
beim Film „Wer hat Angst vor Rot-Gelb-Blau“ mit. Eine ihrer Aufgaben war | |
es, eine Szene mit einem Gemälde von Honecker im Stil von Andy Warhol | |
auszustatten. Viele fanden den bunten Honecker so gut, dass Marlies mehrere | |
Drucke anfertigen musste. Irgendwann konnte sie Honecker aber nicht mehr | |
sehen und legte die übrigen Bilder unter ihr Sofa. Zum Jubiläum hat sie | |
diese wieder hervorgeholt und verkauft sie vom Kofferaum aus an die | |
Mauer-Besucher. | |
Der 9. Jahrgang des Gymnasiums in Lichtenberg hat sich im | |
Religionsunterricht eine besondere Mauer-Aktion ausgedacht. Sie möchte den | |
Grenzwall noch einmal symbolisch einstürzen lassen. Hierzu türmen die | |
SchülerInnen Kartons auf, die für jene Gefühle stehen, die die Mauer bei | |
den Menschen ausgelöst hat: „Hass“, „Wut“, „Angst“. Die Leute dür… | |
Bällen auf die Karton-Mauer werfen, bis sie fällt. | |
Karla, Gabriele und Uwe sind Mauer-Paten. Von ihrer Kirchengemeinde | |
Mittenwalde aus, haben sie sich angemeldet und dürfen um 19 Uhr die | |
Luftballons fliegen lassen. Wann genau das geschehen soll, erfahren sie | |
über ein Radio, das sie bekommen haben. „Und mit Hilfe von einem | |
Zauberschlüssel – so nenne ich ihn – lassen wir die Ballons dann in die | |
Luft steigen“, sagt Uwe. „Die Ballons fliegen übrigens nicht alle | |
gleichzeitig, sondern erst nach und nach hoch.“ | |
Leider ist es genau das, was die Atmosphäre am Ende des Tages trübt. Die | |
Lichteraktion wirkt in der Luft weniger beeindruckend als am Boden. Und die | |
Hunderttausende, die sich am Brandenburger Tor, am Checkpoint Charlie, am | |
Potsdamer Platz und an der Oberbaumbrücke versammelt haben, zeigen sich | |
enttäuscht. Sie hatten wohl erwartet, dass sich die gesamte „Lichter-Mauer“ | |
in den Himmel erhebt, stattdessen sieht man nur ab und an einen blassen | |
Luftballon. | |
10 Nov 2014 | |
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## AUTOREN | |
Christine Stöckel | |
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