Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Debatte Syrien: Die Minderheitenfalle
> Mit dem Ausbruch der Revolution hat das Regime das Gewaltmonopol
> aufgegeben, Milizen starkgemacht und Minoritäten damit gefährdet.
Bild: Die Kleine (links) hat das noch nicht so drauf mit dem Victory-Zeichen. V…
Es zählt zu den großen Versäumnissen der syrischen Opposition, sich nicht
mit klaren Worten an die Minderheiten in Syrien zu wenden, um ihnen zu
versichern, dass sie als integraler Bestandteil der Gesellschaft betrachtet
werden und auch nach dem Sturz von Baschar al-Assad gleichberechtigt an der
neuen Staatsordnung teilhaben werden.
Die Terrormiliz „IS“ bekämpft religiöse Minderheiten. Es ist daher
nachvollziehbar und berechtigt, dass der Westen sich um deren Schicksal
sorgt. Doch automatisch anzunehmen, dass jemand, der sie wie Baschar
al-Assad nicht offen bedroht, ihr Beschützer ist, ist ein Kurzschluss.
Mit Beginn der Revolution hat das syrische Regime 2011 das staatliche
Gewaltmonopol aufgegeben und damit auch den Minderheiten den Schutz
entzogen. Die ersten nichtstaatlichen Akteure, die an vielen Orten zu den
Waffen griffen und Checkpoints einrichteten, waren keine Rebellen, sondern
regimenahe Kräfte, die selbst ernannte Bürgerwehren errichteten. Der Staat
ließ sie gewähren, und schon bald waren sie fester Bestandteil der
Mordmaschinerie des Regimes.
Nichtstaatliche, aber regimenahe Milizen, die sogenannten Schabiha, machten
sich auf grausame Weise einen Namen, etwa bei Massakern wie dem in der
Gemeinde Hula im März 2012. Nachdem die Truppen des Regimes gewütet hatten,
kamen sie und mordeten und plünderten. 108 Bewohner wurden mit Äxten,
Messern und Schusswaffen ermordet. Unter den Opfern fanden sich auch 49
Kinder. Auf den dann berühmt gewordenen „Sunni Markets“ verkauften die
Schabiha, was sie in sunnitischen Häusern an sich gerissen hatten. Die
Beute war Teil ihres Lohns.
## Regime macht Sicherheit zur Privatsache
Ein deutlicheres Signal, das „Sicherheit“ von jetzt an Privatsache sei,
hätte das Regime nicht geben können. Ein Gewaltmonopol aufzugeben, das Land
mit einer Welle der Gewalt zu überziehen, ein Klima der Unsicherheit nicht
nur zuzulassen, sondern bewusst zu schaffen, das war der größte
Bärendienst, den das Regime Minderheiten erweisen konnte. Den „Schutz der
Minderheiten“ als Aushängeschild des Regimes zu preisen, wie es viele
Regimetreue und darunter christliche Würdenträger bis heute tun, ist
höhnisch, wenn das Regime gleichzeitig sein Möglichstes tut, eine Bedrohung
der Minderheiten herbeizuführen.
Diese Strategie ist übrigens kein neues Phänomen. Bereits der Vater von
Baschar al-Assad, Hafiz al-Assad, nahm die eigene religiöse Minderheit der
Alawiten mit dem angeblichen Schutz in eine Art Geiselhaft. Schon damals
lautete das Mantra: Stützt das Regime, denn alle andern wollen euch Böses.
Die gleichzeitig an einige Alawiten vergebenen Machtpositionen schürten die
Unbeliebtheit dieser Minderheit weiter. Die im Westen gern übernommene
Propaganda des Regimes hinsichtlich des Minderheitenschutzes zeugt also von
wenig Kenntnis der Situation in Syrien und ruft im Land daher vielfach
Misstrauen hervor.
Desgleichen sind auch viele SyrerInnen nicht davon überzeugt, dass die
derzeitigen Luftschläge gegen den IS in ihrem Interesse sind. Vielmehr
scheint es, als werde der Westen nur aktiv, wenn er sich selbst bedroht
fühlt, etwa durch extremistische Rückkehrer. Viel zu sehr verharrt Europa
in der alten Kolonialstrategie, religiöse oder ethnische Minderheiten als
Partner zu stützen, wenn sie ihm nützlich sind. Während Waffenlieferungen
an die Freie Syrische Armee bis heute umstritten sind, wurde die
Entscheidung, die Kurden aufzurüsten, innerhalb weniger Tage getroffen.
## Und die säkulare Minorität?
Viele Angehörige von Minderheiten sehen sich in einer Zwickmühle: Es fehlt
Ihnen das Vertrauen in oppositionelle Kräfte – aber auch in das Regime. Nur
fürchten sie Erstere mehr, während sie beim Regime das Gefühl haben, sich
in relativer Sicherheit wiegen zu können, solange sie nicht aufbegehren.
Dissidenten aus Minderheiten haben oft das Gefühl, vom Westen auf ihre
Konfession reduziert zu werden und nicht als Gegner einer faschistischen
Diktatur ernst genommen oder gar unterstützt zu werden.
Der Westen tut sich und der syrischen Bevölkerung keinen Gefallen damit,
sich auf ein rein konfessionelles oder ethnisches Verständnis von
Minderheiten zu beschränken, denn dadurch geraten wichtige andere
Mehrheiten und Minderheiten ins Hintertreffen.
Die explizit säkularen Aktivisten in der Opposition sind in der Minderheit.
Obwohl sie diejenigen wären, die der Westen sich vorgeblich am meisten als
Partner wünscht, hat er sie am wenigsten unterstützt. „Nicht repräsentativ…
seien sie, heißt es, wenn man ihre Vertreter als Gesprächspartner bewirbt.
Die politische Minderheit, um die der Westen sich am meisten bemühen sollte
– und sei es nur, damit sie nicht den Glauben an die westliche
Wertorientierung verlieren –, fühlt sich daher zu Recht am meisten im Stich
gelassen. Mit einer Mischung aus leeren Versprechungen und Ignoranz hat der
Westen ihnen den Eindruck vermittelt, dass sein einziges Anliegen ist,
nicht in den Konflikt hineingezogen zu werden.
Assad hat ebenso wie der IS aktive Unterstützer – aber sie sind eine
Minderheit. Fast die Hälfte der syrischen Bevölkerung ist auf der Flucht.
Die überwältigende Mehrheit der syrischen Bevölkerung würde alles dafür
geben, in ihre Häuser zurückkehren zu können.
## Regime hilft Binnenflüchtlingen nicht
Während es in Baschar al-Assads Reden meist darum geht, wie die
„Terroristen“ zu bekämpfen seien, muss man nach Beileidsbekundungen für d…
Opfer des Konflikts mit der Lupe suchen, gar nicht zu reden von Hilfe des
Regimes für Flüchtlinge – und das angesichts von mehr als 6 Millionen
Binnenflüchtlingen. Diese Zahl wird vom Regime nicht angefochten.
Gleichzeitig gilt die westliche Aufmerksamkeit vor allem den kriegerischen
Akteuren, auch wenn sie – wie in jedem bewaffneten Konflikt – nur eine
Minderheit der Bevölkerung ausmachen.
Wer sich ernsthaft für eine Lösung des Konfliktes einsetzt, sollte sich
daher nicht auf partielle Maßnahmen zum Schutz von Minderheiten oder die
Bewaffnung einer ethnischen Gruppe beschränken, sondern Ansätze abwägen,
die das Wohlergehen der Mehrheit in den Blick nehmen. Bei ihr handelt es
sich vor allem um ZivilistInnen.
23 Nov 2014
## AUTOREN
Bente Scheller
## TAGS
Schwerpunkt Syrien
Baschar al-Assad
Minderheitenpolitik
Flüchtlinge
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Schwerpunkt Syrien
Gerd Müller
Schwerpunkt Syrien
„Islamischer Staat“ (IS)
Schwerpunkt Syrien
„Islamischer Staat“ (IS)
## ARTIKEL ZUM THEMA
Traumatisierung in Kriegsgebieten: Es bleiben Narben
Kriege und Konflikte traumatisieren Menschen. Doch für die Behandlung der
psychischen Leiden ist oft keine Zeit. Eine Konferenz ringt um Angebote.
Ehrung für syrische Oppositionelle: Seit einem Jahr verschleppt
Vier syrische Oppositionelle wurden 2013 entführt und werden seither
vermisst – unter ihnen Razan Zeitouneh. Nun erhalten sie den
Petra-Kelly-Preis.
Syrien bombardiert IS-Hochburg: Schwere Angriffe, tote Zivilisten
Laut UN-Angaben sind zwölf Millionen Syrer wegen des anhaltenden
Bürgerkriegs auf Hilfe angewiesen. 150.000 Menschen kamen ums Leben,
zuletzt durch Luftangriffe.
Medien und Krieg in Nahost: Die große Syrien-Schlamperei
Einige Syrien-Reporter verzerren nicht nur absichtlich das Bild. Manch ein
renommierter Nahost-Experte arbeitet auch mit unlauteren Quellen.
Entwicklungsminister Gerd Müller: „Frieden schaffen wir ohne Waffen“
Gerd Müller (CSU) will die deutsche Entwicklungshilfe wieder
entmilitarisieren und die Kleinbauern stärken. Die großen deutschen
Textilfirmen erschüttern ihn ein wenig.
Bürgerkrieg in Syrien: Vor dem Showdown in Baath City
In Südsyrien gerät die Armee gegenüber Aufständischen in Bedrängnis. Der
Schlüssel zum Erfolg: mehr Kooperation zwischen den Rebellengruppen.
Mutmaßlicher deutscher IS-Kämpfer: Syrien-Rückkehrer verhaftet
In Wolfsburg ist ein mutmaßlicher IS-Kämpfer nach seiner Rückkehr aus
Syrien festgenommen worden. Er soll sich in Ausbildungslagern aufgehalten
haben.
IS-Kämpfer wechselt die Seiten: Für die Familie übergelaufen
Abu Schakr hat früher für den Islamischen Staat gekämpft. Dann wurde er
gefangengenommen und arbeitet nun als Informant für den irakischen Staat.
Junge Islamisten aus Frankreich: Mit Facebook in den Dschihad
Die Identifikation zweier junger Franzosen als Schlächter im Dienst des IS
hat das Land zutiefst schockiert. Das war natürlich Absicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.