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# taz.de -- Ehrung für syrische Oppositionelle: Seit einem Jahr verschleppt
> Vier syrische Oppositionelle wurden 2013 entführt und werden seither
> vermisst – unter ihnen Razan Zeitouneh. Nun erhalten sie den
> Petra-Kelly-Preis.
Bild: Im April 2013 gründet Razan Zeitouneh das Zentrum zur Dokumentation von …
BERLIN taz | An der Ecke soll ich warten. Und Razan Zeitouneh ist
pünktlich. Nach einem flüchtigen Gruß führt sie mich zu ihrer Wohnung –
zügig, zielstrebig und ohne Worte. Zweimal rechts, vorbei an unauffälligen
Häuserblocks, parkenden Autos, kleinen Geschäften und den Augen des
syrischen Geheimdienstes, der genau beobachtet, wen die Anwältin bei sich
empfängt. Meinen Vorschlag, sich wie in Oppositionskreisen üblich im Café
zu treffen, hatte sie abgelehnt. Die Staatssicherheit sei ohnehin überall,
ungestörter reden könnten wir bei ihr zu Hause.
Es ist Februar 2008 und Syriens führende Oppositionelle sitzen mal wieder
im Gefängnis. Zeitouneh gehört zu dem Team von Anwälten, das sie verteidigt
– eine ehrenwerte, wenn auch sinnlose Aufgabe. Die Anklagepunkte sind die
gleichen wie immer: Verbreitung falscher Nachrichten, Schwächung des
Nationalgefühls und Schüren konfessioneller Konflikte. Und auch die Urteile
stünden schon fest, sagt Zeitouneh. „Das sind politische Entscheidungen,
die woanders getroffen werden, mit einem fairen Gerichtsprozess hat das
nichts zu tun.“
Im Oktober 2008 treffe ich Zeitouneh im Justizpalast wieder. Der
Gerichtssaal ist übervoll, aber die blonde Anwältin mit den blauen Augen
fällt auf. Eingepfercht in einen Käfig, nehmen die Angeklagten ihr Urteil
entgegen, zweieinhalb Jahre Haft. Damals ahnt keiner, dass die zwölf
Oppositionellen pünktlich zum Beginn der syrischen Revolution im März 2011
freikommen würden.
Die friedlichen Proteste sind für Razan Zeitouneh ein persönlicher
Wendepunkt. Jahrelang hatte sie politische Gefangene – darunter viele
Islamisten – vor Gericht vertreten. Sie hat Menschenrechtsverletzungen des
Regimes in einer Internetdatenbank dokumentiert und war dafür mit Verhören
und einem Ausreiseverbot schikaniert worden.
## Keinen Moment dieser großartigen Revolution verpassen
##
Jetzt wird aus der Anwältin eine Aktivistin, aus der Verteidigerin eine
Vorkämpferin. Die damals 34-Jährige baut die Lokalen Koordinierungskomitees
mit auf, die im ganzen Land Demonstrationen organisieren, Informationen
über Opfer sammeln und humanitäre Hilfe beschaffen. Ein Traum scheint wahr
zu werden, der sich jedoch angesichts von Scharfschützen, Panzern, Raketen
und Kampfjets für viele zum Albtraum entwickelt. Während immer mehr
Oppositionelle ins Ausland fliehen, besteht Razan Zeitouneh darauf, „keinen
Moment dieser großartigen Revolution verpassen“ zu wollen. Es klingt
entschlossen, nicht trotzig.
Für den Westen wird die junge weltoffene Frau das Gesicht der Revolution.
Sie wird vielfach geehrt: mit dem Anna-Politkowskaja-Preis, dem
Sacharow-Preis der EU sowie dem Ibn-Ruschd-Preis. Aber die internationale
Anerkennung nützt ihr in der Heimat wenig. Das syrische Fernsehen erklärt
sie zur Agentin und Staatsfeindin, Zeitouneh muss untertauchen.
Zwei Jahre lang wechselt sie regelmäßig ihr Versteck, sitzt Tag und Nacht
hinter geschlossenen Vorhängen vor dem Computer, ihrem Fenster zur Welt.
Sie gibt CNN Interviews per Skype, beschreibt ihre Gedanken in der Zeit und
postet auf Facebook die neuesten Nachrichten der Revolution. Weil die
Sicherheitskräfte sie nicht zu fassen kriegen, verhaften sie an ihrer
Stelle ihren Ehemann und Mitstreiter Wael Hamadeh, der brutal gefoltert
wird, aber wieder freikommt.
## Es herrscht Aufbruchstimmung
Im April 2013 flüchten die beiden in die östlichen Vororte von Damaskus
nach Duma. Die Gegend ist bereits vom Regime befreit, es herrscht
Aufbruchstimmung. Die wird jedoch von islamistischen Gruppen zunehmend
erstickt. Zeitouneh gründet das Zentrum zur Dokumentation von
Menschenrechtsverletzungen, sie wird zu einer Chronistin der Gewalt, ihre
Zahlen gelten als verlässlich.
In Duma trifft Zeitouneh Yassin al-Haj Saleh wieder, einen führenden
Intellektuellen des Landes, der nach zwei Jahren im Untergrund in den
Norden will, um dort für die Revolution zu arbeiten. Seine Frau Samira
al-Khalil, die als langjährige Oppositionelle wie er schon früher
inhaftiert war, will ihm später folgen. Zunächst aber hilft sie Zeitouneh
dabei, zwei Frauenzentren aufzubauen.
„Die beiden ergänzen sich gut“, erzählt al-Haj Saleh, der inzwischen nach
Istanbul geflohen ist. Razan sei aktiv, rastlos und effektiv, Samira ruhig
und ausgeglichen. „Razan ist für mich die größte Heldin des Landes“, sagt
al-Haj Saleh. Und als 53-jährige Alawitin symbolisiere Samira die
Verbindung zwischen den Generationen und Konfessionen in Syrien.
## Vielleicht ein Abschied für immer
Hundert Tage verbringt al-Haj Saleh mit dem Team des Dokumentationszentrums
in Duma, bis sich ihm am 10. Juli 2013 die Möglichkeit zur Flucht bietet.
An jenem Tag sieht er seine Frau Samira und ihre Freunde womöglich zum
letzten Mal.
Genau fünf Monate später, am 10. Dezember 2013, überfallen Unbekannte die
Räume des Dokumentationszentrums und entführen Zeitouneh, ihren Mann Wael
Hamadeh, Samira al-Khalil und den Anwalt und Dichter Nazem Hammadi. Die
Solidarität ist groß, national wie international setzen Angehörige,
Aktivisten und Politiker alles in Bewegung, um die vier Verschleppten
freizubekommen. Vergeblich. Bis heute fehlt jede Spur.
Die Gegend steht damals schon unter der Kontrolle der Armee des Islam,
einer Islamistengruppe, die von Saudi-Arabien finanziert wird. Ihr Anführer
Zahran Alloush leugnet jedoch, etwas mit dem Verschwinden zu tun zu haben.
Saleh glaubt ihm nicht. „Wer auch immer sie entführt hat, hat es im Auftrag
oder mit Genehmigung der Armee des Islam getan“, sagt er. Duma sei das
Zentrum der Armee des Islam, Alloush entgehe dort keine Bewegung. Als
bewiesen gilt außerdem, dass Zeitounehs Laptop zwei Tage später im Büro von
Alloushs Bruder benutzt wurde.
## Sind sie an das Assad-Regime ausgeliefert worden?
Ein Anwaltskollege von Zeitouneh, der anonym bleiben will, traut dem
Islamistenführer auch zu, die vier an das Regime ausgeliefert zu haben.
„Razan hat Verbrechen aller Seiten dokumentiert und auch das Verhalten der
bewaffneten Oppositionsgruppen kritisiert“, erklärt er. Damit habe sie sich
Feinde gemacht. Außerdem baute sie zivile Strukturen und eine lokale
Selbstverwaltung auf, was den Herrschaftsanspruch der Armee des Islam
infrage stellte. Hartnäckig habe sie sich außerdem geweigert, ein Kopftuch
zu tragen, erinnert sich ihr Kollege. Alles Gründe, Razan Zeitouneh und die
anderen loszuwerden – möglichst ohne sich selbst die Hände schmutzig zu
machen, schließlich steht die Armee des Islam aufgrund ihrer
internationalen Finanziers unter öffentlichem Druck.
Al-Haj Saleh hält einen Deal zwischen der Nusra-Front, dem syrischen
Al-Qaida-Ableger, und der Armee des Islam für wahrscheinlich. „Nusra hat
die vier für Alloush beseitigt und dafür mehr Handlungsspielraum bekommen“,
vermutet der Intellektuelle, ohne jedoch konkrete Beweise zu haben. Die
Tatsache, dass es trotz der Bemühungen so vieler Leute seit einem Jahr
keine Spur gibt und dass keine Forderungen gestellt wurden, lasse das
Schlimmste vermuten, meint Saleh. „Vielleicht sind sie schon lange tot.“
Egal was mit den vieren passiert ist, sie hinterlassen ein Vermächtnis.
Sechs Tage vor der Entführung nahm Razan Zeitouneh eine Videobotschaft auf,
in der sie die anhaltende Bombardierung und die Abriegelung von Duma durch
das Regime verurteilt. 23 Kinder sind bereits verhungert. Die
Rechtsanwältin erklärt, der schnelle Tod durch Raketen sei dem langsamen
schmerzhaften Sterben durch Belagerung vorzuziehen.
## Die Welt schweigt
Das Schweigen der Welt angesichts dieser Verbrechen kann Zeitouneh kaum
ertragen. Ausgerechnet sie, die in Europa mit Preisen überschüttet wird,
erhebt schwere Vorwürfe gegen den Westen. Nach dem Giftgas-Massaker im
August 2013, das sie persönlich miterlebt hat, empfindet sie angesichts der
UN-Resolution zur Abrüstung der syrischen Chemiewaffen „Erschütterung und
Demütigung“, weil sie Assads Machterhalt impliziert. Für die Syrer würden
die grundlegenden Prinzipien der Menschenrechte offenbar nicht gelten, denn
„Assad, der wahre Kriminelle“, sei weiterhin frei, und niemanden
interessiere es.
Was würde Zeitouneh heute sagen, wenn sie wüsste, dass Assads
Vernichtungskrieg inzwischen nicht nur geduldet, sondern sogar belohnt
wird? Dass er zum Partner im Kampf gegen den von ihm genährten IS wird und
dass seine Strategie des Aushungerns ganzer Stadtteile, mit der er die
Bewohner zur Kapitulation zwingt, zu einem UN-Plan für lokale
Waffenstillstände geführt hat?
Appelle seien nutzlos geworden, schrieb Zeitouneh vor einem Jahr. „Der
Westen verschließt Augen und Ohren gegenüber den Wünschen und Hoffnungen
der Syrer, die so viel in diese Revolution investiert haben.“ Jetzt bekommt
Zeitouneh mit dem Petra-Kelly-Preis die nächste Ehrung. So wichtig dieser
ist, um an das Schicksal der Entführten zu erinnern – noch wichtiger wäre
es, ihre Botschaft endlich zu hören.
27 Nov 2014
## AUTOREN
Kristin Helberg
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