# taz.de -- Die Wahrheit: Juwel in der Truhe | |
> Das sagenhafte Goldene Vlies der Antike ist überraschend wieder | |
> aufgetaucht – in der ostwestfälischen Gemeinde Bramsche. | |
Bild: Nicht jedes Widderfell kann so flauschig sein wie das Goldene Vlies. | |
Dichter haben es besungen, Maler haben es gemalt und Forscher haben es in | |
aller Welt gesucht – das Goldene Vlies. Jetzt ist es wieder aufgetaucht, | |
bei einer Haushaltsauflösung in der westfälischen Gemeinde Bramsche im | |
Landkreis Osnabrück. Doch wie ist es dort hingeraten? | |
Der Sage nach hat der griechische Gott Hermes aus nicht mehr genau | |
ermittelbaren Gründen eines Tages einem flugtauglichen goldenen Widder | |
namens Chrysomeles befohlen, die Kinder des böotischen Königs Athamos und | |
seiner Frau Nephele nach Asien auszufliegen. Der Widder wurde nach getaner | |
Tat geopfert, und sein Fell, das besagte Goldene Vlies, soll im heiligen | |
Hain des Kriegsgottes Ares aufgehängt und von einem mächtigen, niemals | |
schlafenden Drachen bewacht worden sein, bis es von den sogenannten | |
Argonauten geraubt wurde. Danach verlor sich seine Spur. | |
Anhand von Gewebeproben haben Archäologen aus Cambridge und Experten des | |
Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin in Münster übereinstimmend | |
festgestellt, dass es sich bei dem in Bramsche lokalisierten Objekt | |
tatsächlich um das Goldene Vlies handelt. | |
„Anfangs habe ich das Ganze für einen Scherz gehalten“, sagt Dr. Vladimir | |
Abramovich (39), ein renommierter Althistoriker, der den | |
Naturwissenschaftlern aus Cambridge und Münster beratend zur Seite steht. | |
„Aber der Augenschein hat mich sofort eines Besseren belehrt, und die | |
Analysen der Kollegen lassen keinen Zweifel zu: Wir haben das Goldene Vlies | |
entdeckt.“ | |
Nach Auskunft des Pressesprechers der Stadt Bramsche ist das Vlies im | |
Nachlass der ledigen und kinderlosen, im Alter von 61 Jahren an | |
Herzversagen verschiedenen Aldi-Kassiererin Gerlinde Börnsen aufgefunden | |
worden. Da es keine Hinterbliebenen gibt, die Anspruch auf das Vlies | |
erheben könnten, ist Vater Staat in diesem Fall der „lachende Dritte“. Von | |
Kunstsachverständigen wird der Marktwert des Vlieses auf zwei- bis | |
dreihundert Millionen Euro beziffert. Einem Gutachten des | |
Bundesjustizministeriums zufolge fällt es jedoch unter das | |
Kulturgutschutzgesetz, sodass es nicht ohne Weiteres verscherbelt werden | |
kann, auch wenn dem Fiskus damit sicherlich geholfen wäre. | |
Inzwischen hat sich das griechische Außenministerium in den Fall | |
eingeschaltet und eine Restitution des schätzungsweise 2.500 Jahre alten | |
Vlieses an die Hellenen gefordert. Ob es sich bei dem Vlies nun allerdings | |
um Raubkunst handelt, ist nicht erwiesen. Nachforschungen im Melderegister | |
haben ergeben, dass Gertrude Börnsens Vorfahren allesamt sehr kleine Leute | |
waren – Kohlenträger, Hundefänger, Schornsteinfeger und dergleichen –, und | |
dass keiner von ihnen jemals im Ausland gewesen ist. Im Ersten und im | |
Zweiten Weltkrieg waren sie wegen geistiger und körperlicher Defizite | |
ausnahmslos ausgemustert worden. Hermann Friedrich Gneitzke, ein | |
Ururgroßonkel aus der mütterlichen Stammlinie, hatte 1870 zwar am Feldzug | |
gegen Frankreich teilgenommen, war aber bereits bei der Eroberung der Stadt | |
Spichern gefallen, und ein anderer Vorfahre, Carl Eduard Conrad Börnsen | |
(geboren 1592 in Detmold), wurde 1617 als vermisst gemeldet, nachdem er mit | |
einer ungarischen Marketenderin durchgebrannt war. | |
„Anhaltspunkte für eine illegale Inbesitzbringung des Vlieses durch die | |
Erblasserin oder ihre Ahnen sind aus dem amtlichen Datenmaterial nicht | |
abzuleiten“, heißt es in einer Expertise, die das niedersächsische | |
Ministerium für Wissenschaft und Kultur bei der Unesco in Auftrag gegeben | |
hat. Aber wie ist das Goldene Vlies ausgerechnet nach Bramsche und in | |
Gerlinde Börnsens Wäschetruhe gelangt? | |
Stefan Ditzing (45), ein langjähriger Wohnungsetagennachbar der | |
Verstorbenen, neigt der Ansicht zu, dass es sich um ein Schnäppchen vom | |
Flohmarkt handelt: „Die Frau Börnsen ist am Wochenende öfter mal nach | |
Hannover gefahren, und dann hat sie so Flohmarktsachen mitgebracht, also | |
irgendwelche Untersetzer oder Obstschalen, sag ich mal, und manchmal eben | |
auch ’n alten Bettvorleger. Fragen Sie da doch mal nach!“ | |
Und tatsächlich: Auf dem hannoverschen Flohmarkt stoßen wir auf einen | |
Stand, an dem es für wenig Geld antike Münzen, Poseidons Dreizack und | |
mykenische Linear-B-Tafeln zu kaufen gibt. Leider schweigt der Händler sich | |
über die Herkunft seiner Waren aus, und als wir eine Woche später | |
wiederkehren, ist er wie vom Erdboden verschluckt. | |
Des Rätsels Lösung wird noch auf sich warten lassen. Freuen können sich | |
aber alle Freundinnen und Freunde der griechischen Mythologie auf den 1. | |
Februar 2015, denn dann soll die große Goldenes-Vlies-Ausstellung im | |
Tuchmacher-Museum zu Bramsche eröffnet werden. Don’t you dare miss it! | |
5 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Gerhard Henschel | |
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