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# taz.de -- Die Wahrheit: Der Blechmärchenonkel
> Mit dem australischen Historiker Christopher Clark geht das ZDF sonntags
> auf eine schwärmerische Deutschlandreise durch die Nationalgeschichte.
Bild: Der Australier Christopher Clark käfert durch die deutschen Lande.
Der australische Historiker Christopher Clark ist für das Zweite Deutsche
Fernsehen in die Bütt gestiegen, um uns die Geschichte unseres Landes
näherzubringen: „Woher kommen wir? Was eint uns? Wovon schwärmen wir? Wie
denken wir? Was treibt uns an? Was ist typisch deutsch?“
Die Bütt besteht in einem roten VW-Käfer-Cabriolet, mit dem Clark durch
deutsche Postkartenlandschaften tourt, mal von hinten gefilmt, mal von der
Seite und mal von oben. An besonders markanten Stätten wie dem
Niederwalddenkmal oder dem Aachener Münster steigt er aus und vertritt sich
telegen die Beine.
Einmal stapft er auch im Wald mit einem Wanderstock durchs Unterholz und
redet Blech: „Der Wald hat sozusagen etwas Sakrales für die Deutschen. Sie
lieben die Tiere, vor allem aber die Bäume.“ Die Kamera zeigt Störche,
Wildschweine und Hirsche im Gegenlicht, und Clark erläutert das
„romantische Naturverständnis“ der Deutschen: „Das ewig wiederkehrende
Wachstum fasziniert sie ebenso wie die Stille des Waldes …“
Auf die naheliegende Frage, wie Tony Marshall, Scooter und die Puhdys bei
einer die Stille des Waldes liebenden Volksgemeinschaft Anklang finden
konnten, geht Clark leider ebenso wenig ein wie auf den Widerspruch
zwischen der Tierliebe der Deutschen und ihrem Appetit auf Billigfleisch.
„Sie freuen sich über jedes Lebewesen, das sich in ihren Wäldern
wohlfühlt“, behauptet er. Dann können wir ihn das Lied „Das Wandern ist d…
Müllers Lust“ knödeln hören, und wir erblicken einen Holzhackerbuben,
Rotkäppchen, das Heidelberger Schloss, die Loreley und einige Rheinburgen.
## Heilloses Gefasel
Darauf folgt ein Exkurs über das mittelalterliche Ritterwesen: „Den Rittern
ging es vor allem um Eroberung und umgekehrt darum, sich vor Feinden zu
schützen. Dafür waren die Burgen da. Ach ja – und natürlich für die
Burgfräuleins, die das traute Heim hüteten oder, besser gesagt, darin
eingesperrt waren und immer nur warten mussten, bis ihr Lieblingsritter
nach dem Kampf nach Hause kam und den Keuschheitsgürtel wieder aufschloss.
Erstaunlich lange blieb dieses Frauenbild bestehen. Inzwischen hat es sich
glücklicherweise vollkommen verändert. Heute bewundert man die deutschen
Frauen für ihre Unabhängigkeit, die sie sich im Lauf der Geschichte
erkämpft haben.“
Versinnbildlicht wird dieses heillose Gefasel von einer über Mauerzinnen
schmachtend in die Ferne schauenden Frauengestalt, die nebenher stumme
Blicke mit einem Greifvogel wechselt. Dann ist abermals die Stimme des
Touristenführers Clark zu hören, der seine Geschichtserzählung auf das
unterste Niveau herunterbricht: „Wer in der Macho-Welt des Mittelalters
etwas gelten wollte, der musste beim Turnier antreten.“ Nun kommen auch das
Schloss Neuschwanstein, das Schloss Drachenburg, ein Winnetou-Mime, das
Brandenburger Tor und die Lüneburger Heide ins Bild.
So bunt und munter geht es zu in dieser Reise durch die deutsche
Vergangenheit. Nachdem Clark um die Siegessäule herumgekurvt ist, macht er
in Aachen Station und berichtet, dass Karl der Große dort „eine Art
Wellness-Bereich in Form von heißen Quellen“ unterhalten habe. Dazu gibt es
interessante, aber anachronistischerweise von einem Streichorchester
untermalte Originalaufnahmen von der Krönung König Otto I. aus dem Jahre
936 zu sehen. „Und jetzt werden die vier Urstämme auf deutschem Boden, die
Sachsen, Bayern, Schwaben und Franken, zur Schicksalsgemeinschaft, einer
Art Urpflanze einer deutschen Nation. Und jetzt ging es richtig los.“
## -Fassung der deutschen Geschichte
Wahrscheinlich hat er auch diesen Unsinn nur so dahingesagt, in der
Annahme, dass niemand mitschreiben werde. Hier sei es dennoch für die
Nachwelt festgehalten: Der in Cambridge lehrende, auf die preußische
Geschichte spezialisierte Professor Christopher Clark ist der Ansicht, dass
es exakt vier deutsche „Urstämme“ gegeben habe, die gemeinsam eine Art
„Urpflanze“ gebildet hätten, also vermutlich so etwas Ähnliches wie Urmel
aus dem Eis.
Von Aachen eilt Clark rasch weiter zur Wartburg („Man hat hier immer noch
das starke Gefühl, in einer anderen Zeit zu sein“) und zum Rathaus von
Münster („Eine feierliche Stimmung muss es gewesen sein hier im Jahre 1648,
und ich finde, das spürt man auch heute noch“). Wir sehen Friedrich den
Großen ergriffen sinnierend beim Gassigehen mit seinen Hunden und einen
umständlich barbierten und energisch mit den Kiefern mahlenden
Bismarckdarsteller, der den Spiegelsaal von Versailles durchschreitet,
während Clark sich mit seiner „ureigenen Mischung aus profunder Expertise
und angelsächsischem Humor“ (ZDF-Kulturchef Peter Arens) um Kopf und Kragen
labert.
In der dritten Folge seiner Reader’s-Digest-Fassung der deutschen
Geschichte kommt er zu dem Schluss, dass der Prozess der Einigung noch
nicht abgeschlossen sei: „Aber es tut sich was. Und darin liegt die
Faszination deutscher Geschichte und deutscher Gegenwart. Danach werde ich
weitersuchen auf meiner Reise durch dieses interessante Land.“ Wer teilt
ihm mit, dass man es mit der Speichelleckerei auch übertreiben kann?
12 Dec 2014
## AUTOREN
Gerhard Henschel
## TAGS
Christopher Clark
Historiker
ZDF
Islam
Erzählungen
Antike
Gedicht
Föderalismus
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