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# taz.de -- Messerattacke in Jobcenter: Ein unscheinbarer Mann
> Der tödliche Angriff im Jobcenter hat Rothenburg erschüttert. Viele
> fühlen mit der Familie des Opfers – und mit der des Täters.
Bild: Rothenburg am 3. Dezember. Zwei Mitarbeiter eines Beerdigungsinstituts tr…
ROTHENBURG/SCHILLINGFÜRST taz | „Haushaltshelfer“, steht am
Supermarktregal: Profi-, Trend- oder Classic Line. Messer mit glitzernden
Klingen, Griffen aus Holz oder Metall. Ab 1,99 Euro.
Hinter der Kasse hängt der Duft nach Brötchen. Er wabert von der
Bäckereitheke herüber. Von der Decke der Einkaufspassage hängen Plakate mit
dem Gesicht eines Weihnachtsmanns. Im Café La Perla unterhält sich die
Bedienung mit einer Stammkundin. Der Warmluftvorhang umhüllt einen zwischen
den Schiebetüren am Ausgang; dann steht man in der kalten Luft des
Dezembertags und 318 Schritte später vor dem Jobcenter.
Hier hat am Mittwoch, dem 3. Dezember, kurz vor zwölf Uhr ein 28-jähriger
Mann einen Gutachter erstochen. Das Messer hatte er zuvor im Supermarkt
gekauft. Ein Küchenmesser, zwölf Zentimeter Klingenlänge. Sein Opfer: ein
Psychologe, 61 Jahre alt, verheiratet. Der mutmaßliche Täter sticht mit
großer Wucht auf den Mann ein, sechs, sieben Mal, schreibt die Fränkische
Landeszeitung.
## Der mutmaßliche Täter sitzt in U-Haft und schweigt zum Motiv
Eine weitere Mitarbeiterin des Jobcenters war mit im Raum. Sie und Kollegen
konnten den Angreifer überwältigen, er wurde festgenommen. Inzwischen wird
wegen Mord gegen ihn ermittelt, er sitzt in U-Haft, und schweigt zum Motiv.
Sein Opfer starb noch im Büro.
Das Jobcenter liegt an einer Hauptstraße. Kerzen stehen auf dem Boden,
Tannenzweige, eine Christbaumkugel. Im Haus führen die Treppen um den
Aufzugschacht nach oben. Im zweiten Stock eine psychotherapeutische Praxis
und Wohnungen mit Igeln auf dem Schuhabstreifer, im Erdgeschoss die
Arbeitsagentur, im Stockwerk dazwischen das Jobcenter.
An der Tür klebt ein grünes Blatt Papier: „Das Jobcenter, Geschäftsstelle
Rothenburg, bleibt bis auf weiteres geschlossen!!!! Für dringende Anfragen
wenden Sie sich bitte an die Dienststelle in Ansbach!“
## Ob der mutmaßliche Täter psychisch krank war, ist unklar
Im Treppenhaus ist es still. Es riecht nach Arzt. Neben der Tür zum
Jobcenter befinden sich eine Klingel und die Schlitze der Sprechanlage. Die
Tür hat eine Klinke. Am Morgen des Tattags musste man nicht klingeln, die
Tür war von außen zu öffnen.
Der mutmaßliche Täter hatte am Mittwoch um 11.15 Uhr einen Termin mit einer
Sachbearbeiterin und dem externen psychiatrischen Gutachter. Einen externen
Gutachter zieht man hinzu, wenn es Anzeichen gibt, dass ein Kunde psychisch
nicht gesund ist, und bei einem anderen Arzt keine Unterlagen über seinen
Zustand vorliegen.
Oder wenn ein berufspsychologisches Gutachten nötig ist, um festzustellen,
ob jemand für eine Umschulung in Frage kommt. Was genau der Grund für den
Termin war, sagt das Landratsamt Ansbach, das das Jobcenter betreibt,
nicht.
## Die Frau im Optikerladen denkt an einen Herzinfarkt, aber doch nicht an
sowas
Laut Staatsanwaltschaft soll der mutmaßliche Täter früher einmal in
psychologischer Behandlung gewesen sein. Ob er aktuell psychisch krank ist,
sei noch nicht geklärt.
Nachdem sein Termin gegen 11.45 Uhr endet, verlässt der 28-Jährige das
Jobcenter. Er geht in den Supermarkt, kauft sich das Messer. Etwa zehn
Minuten, nachdem er gegangen ist, stürmt er in den Raum, wo die
Sachbearbeiterin und der Gutachter noch miteinander sprechen. Im Jobcenter
bricht Panik aus. Eine Frau, die nebenan ein Optikergeschäft betreibt,
erzählt fürs Fernsehen, wie sie Menschen aus dem Haus habe rennen sehen.
Sie denkt an einen Herzinfarkt, aber doch nicht an so was.
Rothenburg ist geschockt. „Laut Polizeistatistik ist Rothenburg eine sehr
sichere Stadt“, sagt Walter Hartl. „Umso größer ist die Betroffenheit, da…
es sich gerade hier ereignet.“ Hartl ist Württemberger mit bayerisch
klingendem Namen, Oberbürgermeister in Rothenburg seit 2006. Sein Rathaus
wirkt wie eine Ritterburg, weitläufig, aus kaltem Stein. Die
Arbeitslosigkeit in der Stadt ist mit 2,9 Prozent äußerst gering,
keinesfalls ist das hier ein Brennpunkt. „Man sieht: So was kann immer und
überall passieren, wo Menschen zusammentreffen“, sagt er.
## Jetzt machen sich auch die Mitarbeiter im Rathaus Sorgen
Der Bayerische Beamtenbund hatte nach der Tat im Bayerischen Rundfunk
Metalldetektoren am Eingang zu Jobcentern gefordert. Hartl fragt: „Was ist,
wenn einer mit dem Keramikmesser kommt?“
Noch vor Weihnachten gebe es im Rathaus eine Personalversammlung zum Thema,
weil auch seine Mitarbeiter besorgt seien. „Wir sind aber darauf
angewiesen, zu den Einwohnern ein Vertrauensverhältnis zu haben. Wir können
nicht alle unter Generalverdacht stellen.“ Was Hartl auffällt: Seine
Rothenburger haben nicht nur Mitgefühl mit der Familie des Opfers, sondern
auch mit der des Täters.
Beim Gehen empfiehlt Hartl den Weihnachtsmarkt vor der Tür, damit man auch
noch was Positives aus Rothenburg mitnehme. In einer Hütte, die den süßen
Duft gebrannter Mandeln verströmt, bedient ein hagerer Mann. Er sagt: „Man
muss sich auch mal in den Kerle reinversetzen. Ich hab Bekannte, die werden
auf dem Amt auch mal blöd angeredet.“ Wer Geld brauche, könne schon
ziemlich verzweifelt sein. Er schüttet Zucker in den Kessel, wo ein
automatischer Löffel eine braune Masse rührt. „So eine Tat kann das alles
aber nicht rechtfertigen.“
## Die Kunden der Bäckerei lassen den Schlüssel im Auto stecken
Der 28-Jährige kommt aus der Kleinstadt Schillingsfürst, rund 20 Kilometer
von Rothenburg entfernt. Die Straßen sind leer an diesem Nachmittag. Dicke
Schneeflocken fallen vom Himmel. Die Fenster einer Bäckerei strahlen warm
in die graublaue Dämmerung. Zum Feierabend gibt es viel Laufkundschaft. Die
Kunden parken ihre Autos an der Straße, lassen den Schlüssel stecken und
den Motor laufen.
Herzensgute Leute seien die Eltern des mutmaßlichen Täters, auch seine
Geschwister, seine Onkel und Tanten. Eine alteingesessene Familie, die
mitten im Leben stehe. Es gebe nichts Negatives zu sagen. Der Sohn wird als
ruhig, ein bisschen ernst beschrieben. Einer, der Stress aus dem Weg
gegangen ist. Das jüngste von vier Kindern. Eher klein und dünn als groß
und kräftig.
Die Familie betreibe einen Gasthof in der Ortsmitte. „Restaurant,
Biergarten, Gästezimmer“ steht auf die Hauswand geschrieben. Die Fenster
sind dunkel. Ruhetag. Am Telefon nimmt eine Frau ab, die das R im
Familiennamen kraftvoll rollt. „Keine Angaben. Keine Angaben“, sagt sie.
„Danke. Danke trotzdem.“ Und legt auf.
## „Das hat ja mal passieren müssen, wenn die Leute wie Menschen zweiter
Klasse behandelt werden“
Die Bäckerei ist eine Drehscheibe für Neuigkeiten und Stadtgespräche. Die
Verkäuferin sagt eine Woche nach der Tat: „Niemand war so richtig
schockiert. Viele sagen: Das hat ja mal passieren müssen, wenn die Leute
auf dem Amt wie Menschen zweiter Klasse behandelt werden.“
Eine Frau mit schwarzem hochgestecktem Haar und glänzender Daunenjacke
schaltet sich ein. Sie hat Erfahrung mit dem Jobcenter. „Auf meinen
Sachbearbeiter lass ich echt nix kommen. Der war in manchen Zeiten wie ein
Ehemann für mich.“ Er habe geholfen, wo es ging. Sie kenne die
Mitarbeiterin des Jobcenters, die die Attacke miterlebt hat. „Eine nette,
liebe Frau. Da muss im Gespräch was passiert sein. Ich kann’s mir nicht
anders vorstellen.“
Sie fühle mit der Familie. Die Mutter des mutmaßlichen Täters habe ihr
gesagt: „Ich glaub, mein Herz bleibt gleich stehen.“
## Ohnmacht. Blankes Entsetzen. Das sind die Worte, die der Bürgermeister
wählt
Im Rathaus von Schillingsfürst, einer alten Villa mit Freitreppe und
dunkler Holzvertäfelung an den Wänden, setzt Bürgermeister Michael
Trzybinski seinen Hut noch einmal ab. In seiner Stadt suchten die Leute
seit einer Woche nach Antworten, die es nicht gibt, sagt er. „Die Antworten
müssen diejenigen finden, die dafür ausgebildet sind.“ Auf Stammtischniveau
diskutiere er nirgendwo mit. Trzybinski setzt seine rote Lesebrille auf die
Nase und lehnt sich zurück, so dass sein schwarzes Shirt um den Bauch
spannt.
Als ehrenamtlicher Richter sei er von vorschnellen Urteilen abgekommen.
„Oft sind es nicht die Rüpel, die mit der Faust auf den Tisch hauen.
Sondern die ruhigen, unscheinbaren.“ Ohnmacht. Blankes Entsetzen, sind die
Worte, die er für die Stimmung im Ort wählt. „Das Mitgefühl gilt dem Opfer
und hier besonders den Eltern des Jungen. So einen Schicksalsschlag wünscht
man niemandem.“ Alle elf Tage passiere auf der Welt ein Amoklauf, habe er
gelesen. Wie er das sagt, klingt es wie ein unausweichliches Gesetz.
Im Rathaus ist es ruhig. Der Bürgermeister muss noch bleiben. Er hat am
späten Abend eine Sitzung. „Vorbereitung fürs Heimatfest in
Schillingsfürst“, sagt er. „Wissen Sie, das Leben muss ja weitergehen.“
Update (18. Dezember 2014): Der mutmaßliche Mörder wurde von der
Justizvollzugsanstalt in das Bezirksklinikum verlegt. Dies beruht darauf,
dass der eingeschaltete Gutachter von seiner Schuldunfähigkeit ausgeht. Der
Haftbefehl wurde daher vom Amtsgericht Ansbach in einen
Unterbringungsbeschluss umgewandelt, der dem Täter gestern eröffnet wurde.
17 Dec 2014
## AUTOREN
Lena Müssigmann
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