| # taz.de -- Geiseldrama in Sydney: Rückkehrer oder „einsamer Wolf“? | |
| > Die australischen Medien mutmaßen über das Motiv des Geiselnehmers. | |
| > Möglicherweise ist der nicht nur Täter, sondern auch Opfer. | |
| Bild: Schwerbewaffneter Polizist vor dem Lindt-Café in Sydney. | |
| BERLIN taz/dpa | „Der Moment, der uns für immer verändert hat“ – die | |
| Überschrift über der Schlagzeile der Sonderausgabe der Boulevardzeitung | |
| Daily Telegraph, kaum zwei Stunden nach Beginn der Geiselnahme in Sydney, | |
| könnte symbolischer nicht sein. Obwohl noch nichts über die Hintergründe | |
| des Verbrechens bekannt war, rief die Zeitung eine Wende in der | |
| australischen Geschichte aus. Die Schlagzeile steht exemplarisch für die | |
| emotionsgetriebene, gelegentlich ins Hysterische abgleitende Irrationalität | |
| der Terrordebatte in Australien – und für die Aggressivität einer Mehrheit | |
| der australischen Medien. | |
| [1][Am Montagmorgen hatte ein Mann Dutzende Geiseln in einem Lindt-Café] in | |
| der Innenstadt der australischen Metropole festgehalten. Fünf Menschen | |
| gelang die Flucht aus dem Geschäft. Hunderte Polizisten und | |
| Antiterrorkräfte sperrten das Gebiet um das Café weiträumig ab. Zwei | |
| Personen hielten zudem eine schwarze Flagge mit arabischer Schrift an die | |
| Fensterscheibe des Cafés, weshalb Vermutungen über einen dschihadistischen | |
| Hintergrund laut wurden. Der Polizeichef des Bundesstaats New South Wales, | |
| Andrew Scipione, sagte dazu lediglich, es sei noch unklar, ob es einen | |
| terroristischen Zusammenhang gebe. | |
| Die Situation im Lindt-Café könnte nicht zuletzt ein indirektes Resultat | |
| der Hetze sein, mit denen australische Muslime seit Monaten konfrontiert | |
| sind. Experten sprachen nicht nur von der Möglichkeit, dass ein Rückkehrer | |
| aus dem islamistischen Syrien oder Irak die Geiseln festhalte. Sie sprachen | |
| auch von einem „Trittbrettfahrer“, von einem „Einsamen Wolf“, einem | |
| frustrierten jungen Mann aus den Vororten von Sydney, der in gewaltbereitem | |
| Islamismus die einzige Möglichkeit sehe, einer Spirale von persönlicher | |
| Frustration, Versagen, Aussichtslosigkeit und Arbeitslosigkeit zu entkommen | |
| – und gesellschaftlicher Ausgrenzung. | |
| Das Land, das bisher auf eine bemerkenswere Harmonie unter den Ethnien | |
| stolz sein konnte, hört seit Wochen täglich Meldungen von muslimischen | |
| Frauen, denen auf offener Straße der Hjiab vom Kopf gerissen wurde, und von | |
| Angriffen auf junge, im Land geborene Muslime, die von weißen Australiern | |
| angespuckt und aufgefordert werden, „dahin zurück zu gehen, wo du | |
| herkommst“. Dabei ist die absolut größte Mehrheit der rund 500.000 | |
| australischen Muslime mindestens so patriotisch wie der sogenannte weiße | |
| Durschnittsaustralier und ebenso empört wie dieser über die Situation in | |
| Irak und Syrien. | |
| ## | |
| Der Generalverdacht ist unbegründet. Rund 70 junge Australier sind bisher | |
| nach Syrien gereist, um sich der Terrormiliz Islamischer Staat | |
| anzuschliessen. Ohne grossen Erfolg, wie es scheint. Der australischen | |
| Regierung zufolge ist bereits jeder vierte in Gefechten getötet worden. Je | |
| größer die Frustration über die Stigmatisierung von Muslimen werde, desto | |
| größer werde auch die Chance, dass vor allem junge Männer – aber auch | |
| Frauen – in die Hände des Extremismus getrieben werden, entweder zuhause | |
| oder im Ausland, sagen Terrorexperten. | |
| Der Telegraph, eine Zeitung im Stall des Amerikaners Rupert Murdoch, der 80 | |
| Prozent des Zeitungsmarktes in Australien kontrolliert, ist eine von vielen | |
| Medien, die in den letzten Monaten die Diskussion um die durchaus | |
| ernsthafte Gefahr eines islamistisch motivierten terroristischen Angriffs | |
| auf heimischen Territorium eskalieren ließen. Die Berichterstattung und | |
| Kommentierung ist oftmals mit rassistischen Untertönen gefärbt. Statt | |
| Analyse und rationale Debatte beherrschen Emotionen und Panikmache die | |
| Zeilen. Gleichzeitig führt die Regierung seit Monaten einen Kampf, nicht | |
| nur gegen „potenzielle Attentäter“ unter australischen Muslimen. Dies zwar | |
| durchaus zurecht. Aber die damit verbundene Publizität und Zusammenarbeit | |
| mit den Medien lässt unter Kritkern tiefere Beweggründe vermuten. | |
| ## | |
| Im September stürmten 800 Sondereineinsatzkräfte der Polizei, der | |
| Geheimdienste und der Armee mehrere Häuser in Sydney und Brisbane. 15 Leute | |
| wurden festgenommen. Im Gegensatz zu anderen solchen Einsätzen wurden die | |
| Medien nicht ausgeschlossen, sondern eingeladen, um die Festnahmen zu | |
| filmen. Jounalisten „twitterten“ die Verhaftungen, rascher als die Polizei | |
| selbst. Das ist Maschinenpistolen-Publizität auf allen Kanälen und in allen | |
| Blättern. | |
| Doch der Ertrag aus den Razzien war enttäuschend. Von den Festgenommenen | |
| sind heute noch zwei in Haft, offenbar keiner unter dem Vorwurf, direkt | |
| terroristisch aktiv gewesen zu sein. Die Aussage von Medienvertretern, eine | |
| Terrorzelle habe geplant gehabt, auf offener Straße jemanden zu enthaupten, | |
| erwies sich später im Wesentlichen als Spekulation. Eine vermeintliche | |
| Tatwaffe war nichts anderes als Kinderspielzeug aus Plastik. Doch der | |
| Schaden war angerichtet. In den Straßen von Sydney oder Melbourne herrschte | |
| zwar nicht Panik, aber fühlbare Unsicherheit. | |
| ## | |
| Zeitgleich hatte die Regierung die Terror-Bedrohungsstufe erhöht und die | |
| Beschneidung der fundamentalsten Rechte der Australierinnen und Australier | |
| geplant. Kein Land der Welt hat jüngst derart einschneidende | |
| „Anti-Terror“-Gesetze verabschiedet oder wird es im kommenden Jahr tun. | |
| Ohne die Unterstützung der Murdoch-Blätter und konservativen Radio- und | |
| Fernsehstationen, der wichtigsten Quelle von Information von Millionen | |
| Australiern, wäre dieser tiefste Einschnitt in die Bürgerrechte und in die | |
| Pflichten von Journalisten seit Gründung der Nation vor über 200 Jahren | |
| wohl kaum möglich gewesen, sagen Medienbeobachter. | |
| Im Oktober ließ das Parlament eine Vorlage passieren, die es australischen | |
| Geheimdiensten unter anderem erlauben wird, nicht nur jeden Computer im | |
| Land zu überwachen, sondern sie auch zur Ausübung von Aktivitäten gegen | |
| Verdächtige einzusetzen. Spione haben es künftig viel leichter, ohne | |
| Oberaufsicht gegen Verdächtige vorzugehen. Und das alles soll geheim | |
| bleiben – für immer: Journalisten, die über „Spezialoperationen“ der | |
| Geheimdienste „leichtsinnig“ berichten, droht bis zu zehn Jahren Haft. | |
| Selbst dann, wenn die Operation gescheitert ist, Spione versagt haben oder | |
| ihre Aktivitäten das Leben Unschuldiger kostete. Ein Leben hinter Gittern | |
| droht in Australien künftig auch „Whistleblowern“, auch wesentlich | |
| kleineren als Edward Snowden. | |
| Im November verabschiedete das Parlament schließlich Gesetze, nach denen | |
| Australier sich rechtfertigen müssen, die in so genannte „deklarierte | |
| Gebiete“ reisen. Irak oder Syrien etwa, Länder oder Zonen, die die | |
| Regierung zu „Horten des Terrors“ erklärt hat. Rückkehrer sehen sich einer | |
| deutlich großzügigeren Interpretation des Begriffs „Terror“ gegenüber. W… | |
| auch nur des Terrors verdächtigt wird, dem droht künftig rasch „präventive | |
| Internierung“ auf unbestimmte Zeit. | |
| ## | |
| Noch ausstehend ist eine Vorlage, nach denen Internet- und Telefonanbieter | |
| verpflichtet werden, so genannte Metadaten ihrer Kunden für zwei Jahre | |
| aufzubewahren. Geheimdienste, Polizei und Militär werden dann die | |
| Möglichkeit haben, von jedem Nutzer zu sehen, wann er von welchem Computer | |
| aus welche Webseite gelesen hat. Wann er welche Nummer angerufen hat und | |
| von wo. „Die totale Überwachung von Millionen Unschuldigen“, klagen | |
| Bürgerrechtler. | |
| Nach dem Vorfall in Sydney ist die Passage dieses weitreichenden Gesetzes | |
| garantiert. Zyniker in Australien sagen, Tony Abbott dürfte von der | |
| dramatischen Situation in Sydney auch persönlich profitieren. Die enorme | |
| Publizität – und die von den Medien erneut geschürte Panik – dürfte | |
| übertünchen, dass seine Beliebtheit unter der Bevölkerung nach dem Bruch | |
| mehrer Wahlversprechen und einem als sozial ungerecht kritisierten | |
| Haushaltsbudget auf einem absoluten Tiefpunkt ist. | |
| Seine sofortige Reaktion auf den Abschuss des malaysischen Flugzeugs MH17 | |
| im Juni über der Ukraine, und sein damit verbundenes Kräftespiel mit | |
| Wladimir Putin haben gezeigt, dass ihn die Bevölkerung eigentlich nur noch | |
| in seiner Rolle als forscher Krisenmanager tolerieren mag. | |
| 15 Dec 2014 | |
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| ## AUTOREN | |
| Urs Wälterlin | |
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