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# taz.de -- Sinnloser Aktionismus nach Geiseldrama: Ich und mein Muslim
> Während der Geiselnahme in Sydney bieten Tausende Muslimen via Twitter
> Begleitschutz an. Gut gemeint und trotzdem daneben.
Bild: Brauchen Muslime hier Begleitschutz? Central-Station in Sydney.
Am Tag nachdem ein vorbestrafter, gestörter Mann in einem Café in Sydney
Geiseln genommen hat, erfreut sich Australien an seiner eigenen Solidarität
gegenüber Muslimen. Tausende bieten via Twitter an, Menschen muslimischen
Glaubens in öffentlichen Verkehrsmitteln Begleitschutz zu geben und feiern
sich dafür selbst. Dabei ist das kein Zeichen von Akzeptanz, sondern
sinnfreier Aktionismus. Herablassend und bevormundend.
Noch während die Geiselnahme andauerte, verbreitet sich bei Twitter der
Hashtag [1][#illridewithyou] („Ich fahre mit dir“). Die australische
Twitter-Nutzerin @sirtessa begann die Aktion. Zunächst twitterte sie die
[2][Route ihrer täglichen Buslinie] und bot an, Muslime, die sich wegen
ihres Aussehens bedroht fühlen, zu begleiten. Später [3][schlug sie den
Hashtag] #illridewithyou vor. Innerhalb kurzer Zeit verbreitet er sich
weltweit, stürmte in vielen Ländern an die Spitze der Trending Topics.
Prominente und [4][Politiker] schlossen sich der Bewegung an. Innerhalb von
24 Stunden wurde er mehr als 400.000-mal genutzt.
Seitdem jubeln weltweit nicht nur Twitter-Nutzer über ihren politischen
Aktivismus, sondern auch Medien. Einhellig loben sie die ach so
solidarische Twitter-Gemeinde. „Australier stehen auf gegen Islamophobie“
heißt es und „[5][Sydney zeigt Herz]“. Vom „[6][schönsten Hashtag aller
Zeiten]“ ist die Rede und Dutzende Nutzer bekommen „[7][Gänsehaut]“.
Menschen posten stolz Bilder von sich, wie sie mit Muslimen fliegen, Bus
oder Bahn fahren. Als sei das allein schon ein toleranter Akt.
Noch während der Geiselnahme berichtet eine [8][Frau bei Facebook], wie sie
eine muslimische Frau im Zug beobachtete, die ihr Kopftuch abnahm. Sie sei
ihr hinterhergelaufen, habe sie aufgefordert, es wieder anzuziehen, und ihr
angeboten: „Ich gehe mit dir“. Ein Akt von Zivilcourage. Und eine
Selbstverständlichkeit.
Aber Solidarität und Akzeptanz bilden sich nicht allein im Angebot von
Begleitschutz ab, sondern darin, zu differenzieren. Wenn ein irrer
Einzeltäter muslimischen Glaubens Geiseln nimmt, darf man das weder auf
andere Muslime übertragen, noch muss man alle anderen Muslime schützen.
Denn was bedeutet #illridewithyou genau? Dass Muslime nicht in der Lage
sind, alleine Bus zu fahren? Dass man sie an die Hand nehmen muss, weil sie
unemanzipiert und ängstlich sind.
## Entmündigung und Bevormundung
Soll die weiße Mehrheitsgesellschaft jetzt mit wachen Augen durch die Welt
gehen auf der Suche nach schutzwürdigen Muslimen, sich ungefragt neben sie
setzen, weil sie unsere Hilfe brauchen? Mit derartigem Aktionismus spricht
man ihnen ihre Souveränität ab, entmündigt und bevormundet sie.
Zumal die realen Auswirkungen der #illridewithyou-Soli-Welle wohl
überschaubar sind. Von hilfsbedürftigen Muslimen, die via Twitter nach
helfenden Begleitern suchen, ist nichts bekannt. Die Aktion wirkt deshalb
wie ein Feigenblatt von Menschen, denen man zwar ihren guten Willen nicht
absprechen mag, die aber real existierende Probleme nicht lösen, sondern
davon ablenken.
Australien steht plötzlich als tolerante, offene Nation da. Dabei hat das
Land tatsächlich ein latentes Rassismusproblem. Die Regierung gibt
Millionen für [9][Hetzkampagnen] aus, die Flüchtlinge vor der illegalen
Einwanderung abhalten sollen. Im Wahlkampf 2013 überboten sich die Parteien
mit [10][Stimmungsmache gegen Asylsuchende]. Jährlich gibt es Dutzende
Anschläge auf Moscheen. Und auf die Verbrechen, die bis in die 1970er Jahre
hinein an den Ureinwohnern begangen wurden, blickt das Land nicht gerne
zurück.
16 Dec 2014
## LINKS
[1] http://twitter.com/search?f=realtime&q=%23illridewithyou&src=tyah
[2] http://twitter.com/sirtessa/status/544375598286512130
[3] http://twitter.com/sirtessa/status/544363674505199616
[4] http://twitter.com/billshortenmp/status/544455743336763392
[5] http://www.dailytelegraph.com.au/newslocal/news/sydney-shows-its-heart-to-t…
[6] http://twitter.com/celineuppel/status/544498269481893888
[7] http://twitter.com/MikeyKn0x/status/544451370154483713
[8] http://twitter.com/MichaelJames_TV/status/544339713394368512
[9] http://www.sueddeutsche.de/politik/australiens-fluechtlingspolitik-millione…
[10] /Wahlkampf-in-Australien/!121233/
## AUTOREN
Paul Wrusch
## TAGS
Sydney
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