| # taz.de -- Die Wahrheit: Die weiße Fensterdame | |
| > Auf den Fensterbrettern in vielen Vierteln Dublins steht eine kleine | |
| > Statue einer sich räkelnden Dame, um die sich allerlei Legenden ranken. | |
| Eibhlín war empört. Ich hatte sie gefragt, ob sie eine weiße Dame besitze, | |
| und sie blaffte mich an: „Gehöre ich deiner Meinung nach zur Unterschicht, | |
| nur weil ich in Finglas wohne?“ Finglas ist ein Arbeiterviertel im Norden | |
| Dublins. In den Sozialbauwohnungen lungern seit Jahren weiße Damen auf den | |
| Fensterbrettern herum. Von Finglas dehnte sich der Brauch auf andere | |
| Arbeiterviertel der irischen Hauptstadt aus. | |
| Die weiße Dame ist eine kleine Gipsstatue einer Frau, die nur mit einem | |
| knappen Tuch bekleidet ist und sich lässig an einen Felsen zurücklehnt – | |
| Dublins Version der Venus von Milo, der halbnackten Statue der griechischen | |
| Göttin Aphrodite. Aber wen oder was stellt die weiße Dame dar? Jeder hat | |
| seine eigene Meinung dazu. Es sei das Zeichen für ein Bordell, glauben | |
| viele. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass manche Viertel nur aus Puffs | |
| bestehen. Ebenso wenig überzeugend ist die Theorie, dass man in den Häusern | |
| Drogen kaufen könne. So blöd ist die irische Polizei nicht, dass sie nicht | |
| selbst darauf kommen würde. | |
| Die weiße Dame zeige an, dass die Bewohner Schutzgeld bezahlt haben, | |
| behaupten andere. Eine Quittung für räuberische Erpressung? Die | |
| kalifornische Dokumentarfilmerin Jessie Ward O’Sullivan ist überzeugt, dass | |
| Eltern, deren Kinder im Mountjoy-Gefängnis einsitzen, die weiße Dame | |
| aufstellen: „Statt einer Kerze im Fenster.“ | |
| Die Interpretationen werfen eher ein Licht auf die Interpreten. Offenbar | |
| glauben sie, dass Kunst in Arbeitervierteln entweder mit Gangstern oder mit | |
| Nutten zu tun haben muss. Es geht der weißen Dame wie Molly Malone, deren | |
| Statue in der Innenstadt steht. Sie soll Prostituierte gewesen sein, | |
| munkelt man, aber dafür gibt es keinen Beleg. Gesichert ist lediglich, dass | |
| sie im 17. Jahrhundert aus einem Schubkarren Fische verkauft hat und am 13. | |
| Juni 1699 am Fieber gestorben ist. Ob das nach ihr benannte populäre Lied | |
| sich aber tatsächlich auf diese Molly bezieht, ist ungewiss. Die | |
| Stadtoberen haben den 13. Juni trotzdem zum „Molly Malone Day“ ernannt. | |
| Es spielt ja auch keine Rolle. Ein irisches Sprichwort lautet: „Die | |
| Wahrheit soll niemals einer guten Geschichte in die Quere kommen.“ Das gilt | |
| auch für die weiße Dame. Die Wahrheit ist in ihrem Fall profan, aber ich | |
| verrate sie nicht, um den Mythos nicht zu zerstören. Es sei lediglich | |
| erwähnt, dass die Gipsstatuen von der Firma Dublin Mouldings in der Parnell | |
| Street hergestellt werden. Deren Besitzer rückt aber auch nicht mit der | |
| Bedeutung der Statue heraus, sondern verweist lediglich auf seine Webseite. | |
| Die gibt es aber gar nicht. | |
| Direkt vor seinem Laden befindet sich jedenfalls die Haltestelle für den | |
| Bus 40, der nach Finglas fährt. Sollten die Bewohner dieses Viertels die | |
| Statue aus Langeweile gekauft haben, während sie auf den Bus warteten? | |
| Am ersten Weihnachtsfeiertag bekam ich eine Textnachricht von Eibhlín: „Ich | |
| habe jetzt eine weiße Dame. Deine Tochter hat sie mir geschenkt – als | |
| Weihnachtsbaumschmuck. Jetzt weiß ich, was ihr von mir haltet.“ | |
| 29 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Ralf Sotscheck | |
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