| # taz.de -- Urlaub von Ägypten und Pegida: Überfordert von Dummheit und Hass | |
| > Wenn er zu Hause in Berlin ist, will sich unser Autor von der ägyptischen | |
| > Diktatur erholen. Und er hat keine Lust, mit Pegida-Anhängern zu | |
| > diskutieren. | |
| Bild: Eigentlich wollte unser Autor in Deutschland nur den Schnee genießen –… | |
| „Was hältst du eigentlich von dem ganzen Pegida-Kram?“, fragte mich | |
| letztens mein türkischer Hotdog-Verkäufer in Berlin-Mitte. Ich war nach | |
| drei Monaten Aufenthalt in Ägypten, wo ich seit mittlerweile einem Jahr | |
| lebe und arbeite, wieder in Berlin und die Pegida-Proteste hatte ich nur | |
| aus der Ferne verfolgt. Anfangs war ich überrascht und ratlos. Überfordert | |
| von der Dummheit und dem Hass. | |
| Wenn ich die Pegida-Demonstranten reden hörte, bekam ich eine Gänsehaut, | |
| denn ich erkannte sofort einige Parallelen zu dem, was in Ägypten immer | |
| wieder gesagt wird. Dort entsteht gerade eine Diktatur, die mit allen | |
| Mitteln die Macht an sich reißen und jeden Traum von Freiheit, Demokratie, | |
| Gleichberechtigung, sozialer Gerechtigkeit, Trennung von Staat und Religion | |
| töten will. All diese Träume, die mit den Umbrüchen von 2011, dem | |
| arabischen Frühling, in greifbarer Nähe zu sein schienen. | |
| Als Journalist zum Beispiel wird man in Ägypten sofort der Lüge bezichtigt. | |
| Deshalb redet man ja nicht mit den Medien – stattdessen sollen diese | |
| gefälligst so berichten, wie man es gerne hätte. Es ist der gleiche Sound, | |
| der auch von Pegida-Demonstranten zu vernehmen ist. Lügenpresse. Dass so | |
| etwas in meinem Deutschland, das die freiheitlich-demokratische | |
| Grundordnung in die Welt predigt und darauf basiert, passieren würde, das | |
| hätte ich mir nie vorstellen können. | |
| Deutschland habe ich im letzten Jahr in regelmäßigen Abständen besucht – | |
| hier in meinem Zuhause mache ich Urlaub von dem Lärm, dem Chaos der | |
| Neunzehn-Millionen-Metropole Kairo. Und von der Diktatur. Der Besuch beim | |
| türkischen Hotdog-Verkäufer ist so für mich zu einem Ritual geworden: Immer | |
| wenn ich in Berlin bin, gehe ich zuerst ins 3-D-Kino um die Ecke und schaue | |
| mir einen Blockbuster an. Und zwar in voller Länge und nicht in einer | |
| kürzeren, da zensierten Version – wie in Ägypten üblich. Nach dem Kino esse | |
| ich einen Hotdog oder zwei. | |
| Anschließend gehe ich dann in meine verrauchte Stammkneipe, um bei viel | |
| Bier über das Leben, die Liebe und die großen politischen Zusammenhänge mit | |
| anderen Berliner Hipstern zu philosophieren. Ich freue mich, einfach auf | |
| meinem Balkon zu stehen, die fröhlichen Menschen oder die, die tun, als ob | |
| sie es wären, zu beobachten. Beim jetzigen Besuch habe ich mich nach | |
| monatelanger Hitze in Kairo besonders auf den Schnee gefreut. Auf die | |
| Schneeflocken, die sich frei fühlen, sich vom Wind treiben lassen, als | |
| würden sie sich nicht richtig entscheiden können, auf welches Autodach sie | |
| fallen möchten. | |
| ## Bewegungsfreiheit und Anonymität | |
| Hier in Berlin, und auch sonst wo in Deutschland, bin ich einer von vielen. | |
| Was ich bin, was ich tue und unterlasse, interessiert in dieser | |
| Gesellschaft niemanden. Ich genieße die Bewegungsfreiheit und die | |
| Anonymität. Doch nun fühle ich mich als nicht eingeborener Deutscher | |
| plötzlich angesprochen. Pegida ist überall – der Stammtisch ist im | |
| intellektuellen Berlin-Mitte angekommen. Das Leben, die Liebe und die | |
| Schneeflocken sind in den Hintergrund gerückt. | |
| So war es auch beim türkischen Hotdog-Verkäufer. Der Laden gehört ihm | |
| übrigens. Er ist in Deutschland geboren und aufgewachsen. Und wird mit | |
| größter Wahrscheinlichkeit auch hier sterben. Dass ich ihn in diesem Text | |
| mit dem Präfix „türkisch“ bezeichne, liegt daran, dass ich seinen Namen | |
| nicht kenne. Die Bezeichnung dient außerdem dem Zweck, dem Stammtisch, um | |
| den es hier geht, „gerecht“ zu werden. Denn eigentlich habe ich den | |
| türkischen Hotdog-Verkäufer in den vier Jahren, in denen ich ihn kenne, nie | |
| nach seiner Herkunft gefragt. Er mich auch nicht. Bis Pegida uns beide dazu | |
| gezwungen hat. | |
| Normalerweise starren wir beim Hotdog-Essen auf den großen Flachbildschirm, | |
| der in der Ecke des Ladens hängt, auf dem immer einer der Privatsender | |
| läuft. Kommentarlos schauen wir den überschminkten, übertätowierten Mandys | |
| und Chantals sowie den augenbrauengezupften halbwüchsigen Kevins und Cems | |
| dabei zu, wie sie miteinander flirten, sich gegenseitig anschreien oder | |
| alle am Strand von Ibiza liegen und viel nackte Haut zeigen. | |
| „Ich freue mich, dass der ganze Scheiß nun an die Oberfläche kommt“, sagte | |
| der türkische Hotdog-Verkäufer beim letzten Mal. Er meint die Ressentiments | |
| gegen die Bürger, die man als Ausländer bezeichnet. Oder, wenn es politisch | |
| korrekt gehen soll, als Menschen mit Migrationshintergrund. Die | |
| Ressentiments, die in Deutschland geschürt und von manchen Politikern | |
| ausgenutzt wurden. | |
| ## „Das Boot ist voll“ | |
| Es ist ja immer wieder vorgekommen, und merkwürdigerweise immer kurz vor | |
| irgendwelchen Wahlen, dass Politiker, die demokratischen Parteien | |
| angehören, vor einem Pult oder einer Kamera stehen und vor irgendwelchen | |
| Fremden, die unsere Sozialsysteme missbrauchen wollen, gewarnt haben: „Das | |
| Boot ist voll.“ „Wer betrügt, der fliegt.“ | |
| Doch die Reaktionen auf diese Parolen hielten sich über die Jahre in | |
| Grenzen. Es gab einen Schlagabtausch in den Zeitungen, Diskussionen in den | |
| Talkshows. Die einen versuchten Argumente zu bringen für etwas, was nicht | |
| logisch ist. Die anderen fühlten sich für den Schutz von Ausländern | |
| verantwortlich, erfanden politisch korrekte Bezeichnungen und forderten ein | |
| „buntes Deutschland“, als wäre die Bundesrepublik ein Kindergarten. | |
| Stammtisch gegen Friede-Freude-Eierkuchen. Aber geflogen wurde keiner, der | |
| betrogen haben soll. | |
| „Mit dem ganzen Fremdenhass hat Pegida den Deutschen eine Ohrfeige | |
| verpasst. Sie schämen sich nun, dass es so weit gekommen ist“, so der | |
| Hotdog-Verkäufer. „Ich beobachte einfach alles und will mich in diese | |
| Diskussion gar nicht einmischen. Die Deutschen sollen es unter sich | |
| richten.“ Er meint die Bürger, die niemand in Deutschland als Ausländer | |
| bezeichnet. | |
| Seine Haltung finde ich gar nicht so abwegig. Was soll man auch mit oder | |
| über Pegida diskutieren? Etwa Argumente bringen wie: Die Ausländer zahlen | |
| insgesamt mehr Steuern, als sie an Sozialleistungen in Anspruch nehmen? | |
| Oder dass Deutschland, eines der reichsten Länder der Welt, sich zu Recht | |
| verpflichtet hat, Frieden, Freiheit und Demokratie in der Welt zu fördern, | |
| und deshalb möglichst viele Flüchtlinge aufnehmen müsste? | |
| ## Der Stammtisch hat sich durchgesetzt | |
| Oder dass fast eine Hand reicht, um die Muslime in Dresden, dort wo das | |
| Abendland angeblich von der Islamisierung bedroht wird, zu zählen? Oder | |
| dass die schlimmsten Salafisten in Deutschland die Konvertiten sind und | |
| Pierre Vogel oder Sven Lau heißen? Oder dass hier in Deutschland erst vor | |
| ein paar Jahrzehnten Frauenrechte erkämpft werden mussten und dass es immer | |
| noch viele gibt, die Frauen lieber hinter dem Herd sehen würden? Oder dass | |
| Homosexualität von den Verfechtern der „christlichen Werte“ immer noch als | |
| Krankheit bezeichnet wird? | |
| Allein dass ich bei einer solchen Diskussion mit Pegida-Leuten den Islam, | |
| oder jede andere Religion verteidigen müsste, wäre für mich ein Grund, gar | |
| nicht erst mitzumachen. Ich kann mich überhaupt mit keiner Religion | |
| identifizieren. Dass ich es doch tun müsste, ist zugleich ein Beweis dafür, | |
| dass der Stammtisch sich mittlerweile durchgesetzt hat. Es geht schließlich | |
| nicht um Argumente oder um selbstverständliche Rechte, die für uns alle | |
| bindend und in der Verfassung verankert sind – wie das Grundrecht auf | |
| Glaubensfreiheit zum Beispiel. Daran glaube ich nämlich. | |
| Außerdem wären der türkische Hotdog-Verkäufer und ich sowieso ungeeignet | |
| für diese Diskussion. Wir seien ja bereits gut integriert, würde man uns | |
| sagen. Es ginge ja nicht um Menschen wie uns. Es ginge um andere. So würde | |
| man auch versuchen, uns zum Schweigen zu bringen – indem man auf die | |
| „Integrationsunwilligen“ verweisen würde. Dabei muss ich immer wieder in | |
| Deutschland mit Integrationsproblemen kämpfen. | |
| Wenn man mich zum Beispiel direkt nach der Begrüßung fragt, woher ich | |
| komme, als würde dies bei unserem oberflächlichen Smalltalk oder unserer | |
| flüchtigen Begegnung etwas ausmachen. Oder wenn meine deutschen Freunde, | |
| wie der türkische Hotdog-Verkäufer sagen würde, lieber keine Hilfe annehmen | |
| wollen, weil sie Angst haben, etwas im Gegenzug abgeben zu müssen. Ich | |
| hadere immer noch mit Erwiderungen wie: „Warum ich?“ oder „Das war nicht | |
| nötig“, wenn ich einem oder einer ein Kompliment mache oder etwas schenke. | |
| Aber deshalb gehe ich ja nicht gleich auf die Straße, um zu demonstrieren. | |
| ## Zu Hause nur Deutsch | |
| Doch weder der Hotdog-Verkäufer noch ich konnten der Diskussion so richtig | |
| ausweichen. Wir beiden haben uns bei dieser letzten Begegnung dabei | |
| erwischt, wie wir uns, getreu dem Stammtischgeist, über irgendwelche Männer | |
| lustig machen, die enge Lederhosen tragen, sich gegenseitig, einem | |
| seltsamen Takt folgend, an den Arsch klatschen und gleichzeitig mit | |
| unverständlichem Dialekt im Fernsehen von anderen verlangen, zu Hause | |
| gefälligst Deutsch zu reden. | |
| Aber hey, im Ernst: So sind wir nicht in Berlin-Mitte. Wir müssen sofort | |
| nachschieben, dass man das mit der Lederhose Kultur nennen könnte, die man | |
| ja mögen kann, aber nicht muss. Dass das mit dem Deutsch-zu-Hause-Reden | |
| menschenverachtender Populismus ist. | |
| Das macht dem Hotdog-Verkäufer wenig aus. Er verkauft seine Würste an | |
| Touristen, die kein Deutsch sprechen. Und ich? Ich widme mich lieber wieder | |
| dem Leben, der Liebe und den Schneeflocken. Denn bald bin ich wieder in | |
| Ägypten, in der Diktatur. Dort gibt es keinen Platz für Leben und Liebe. | |
| Für Schneeflocken schon mal gar nicht. | |
| 5 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Khalid El Kaoutit | |
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