| # taz.de -- Recyceltes Pergament: Jäger der verlorenen Schriften | |
| > Aus Tierhäuten gefertigtes Pergament wurde früher oft mehrmals genutzt. | |
| > Nun werden verschwundene Manuskripte wieder sichtbar gemacht. | |
| Bild: Eine mehrfach genutzte Tierhaut: das sogenannte „Archimedes-Palimpsest�… | |
| Detektivarbeit in der Florentiner Kirche San Lorenzo. Auf den ersten Blick | |
| enthält das vergilbte Buch nur profane Buchhaltung, Dokumente zu | |
| Grundbesitz und anderen Reichtümern einer florentinischen Kirche. Bei | |
| genauer Betrachtung wird deutlich, unter den Aufzeichnungen liegt noch | |
| mehr. Immer wieder scheinen Teile einer älteren Handschrift hindurch, oft | |
| kaum mehr als einzelne Tintenkleckse oder geschwungene Buchstaben-Bögen. | |
| „Die italienischen Bibliothekare vermuteten schon länger, dass hier ein | |
| gesamtes Buch überschrieben wurde“, sagt Christian Brockmann, Altphilologe | |
| und Leiter des Sonderforschungsbereichs für Manuskriptkulturen in Asien, | |
| Afrika und Europa an der Universität Hamburg. Auf seinem Laptop zeigt er | |
| Aufnahmen der Seiten, erst im Originalzustand, dann unter blauem, rotem und | |
| grünem Licht fotografiert. | |
| Deutlich sind nun Bögen, Punkte, melodische Verläufe zu erkennen – Noten | |
| eines Trecento-Stücks aus dem Italien des 15. Jahrhunderts. „Das ist eine | |
| wichtige Handschrift für diese Musikepoche. Zu einigen der Komponisten gibt | |
| es nur wenige Quellen“, erklärt der an der Auswertung beteiligte | |
| Musikwissenschaftler Andreas Janke. | |
| ## Sogenanntes Palimpsest | |
| Der Fund der Hamburger Wissenschaftler ist ein sogenanntes Palimpsest. In | |
| der Spätantike und dem frühen Mittelalter war Pergament rar und teuer. In | |
| den Schreibstuben griffen die Skriptoren deshalb zu radikalen Mitteln. Alte | |
| Schriften wuschen und kratzten sie vom Pergament und beschrieben es neu. | |
| Erst mit dem Aufkommen des Papiers im 12. Jahrhundert verlor dieses | |
| Recycling langsam an Bedeutung. Zum Glück für die Wissenschaftler blieben | |
| dabei in den Tiefen der Pergamente Tintenreste aus Eisen oder Kohle | |
| erhalten – auch nach starker Verschmutzung, grobem Kratzen oder einem | |
| Wasserschaden. | |
| Diese Reste lassen sich mit moderner Fototechnik wieder sichtbar machen. | |
| Dafür werden die historischen Schriftstücke mit einer 50-Mega-Pixel-Kamera | |
| unter verschiedenen Lichteinstellungen und Filtern fotografiert. Man | |
| spricht von einer Multispektraltechnik. Dabei erzeugen spezielle Strahler | |
| unterschiedliche Wellenlängen, teils Infrarot-, teils UV-Licht. „Das Licht | |
| bricht sich an der Tinte. Nach der Bearbeitung am Rechner können wir so die | |
| meisten Schriften lesbar machen und das ohne Beschädigung des Originals“, | |
| erklärt Claire MacDonald, die Technikexpertin der Hamburger | |
| Forschungsgruppe. | |
| ## Drei bis vier Stunden für eine Seite | |
| Für eine beschädigte Seite braucht die Amerikanerin etwa drei bis vier | |
| Stunden. Nur wenn die Verschmutzungen zu groß sind oder das Manuskript | |
| gleich mehrfach überschrieben wurde, bringt auch die Hightechkamera kein | |
| Licht ins Dunkel. Ein Fortschritt ist für die Historiker die Technik | |
| trotzdem. | |
| Schon seit dem 19. Jahrhundert machen sich Forscher auf die Suche nach den | |
| verborgenen Schriften. Lange Zeit eher mit der Holzhammer-Methode: Mit | |
| ätzenden Chemikalien rieben sie die Pergamente ein und brachten Altes an | |
| die Oberfläche. Oft nur kurzzeitig, dann zerfielen ganze Bücher in ihre | |
| Einzelteile. | |
| Die materialschonende Durchleuchtung von Palimpsesten bekam erst 2006 durch | |
| die Arbeit des deutschen Physikers Uwe Bergmann und seines Teams von der | |
| Stanford University Aufwind. Er machte mittels Röntgenstrahlung einen zu | |
| großen Teilen noch unbekannten Archimedes-Text über antike | |
| Integralrechnung, mathematische Methodenlehre und schwimmende Körper wieder | |
| sichtbar. Ein Schreiber hatte den Text im 10. Jahrhundert Buchstabe für | |
| Buchstabe abgeschrieben, wahrscheinlich von einem originalen | |
| Archimedes-Papyrus auf eine Ziegenhaut. | |
| Im 13. Jahrhundert radierte der Mönch Johannes Myronas alle Worte des | |
| griechischen Mathematikers weg und schrieb darauf ein kunstvoll verziertes | |
| Gebetsbuch. Seinen Namen und das Datum der Bearbeitung, Jerusalem, der 13. | |
| April 1229, brachte die Bestrahlung ebenfalls zum Vorschein. Jahrhunderte | |
| lag das Buch in der Bibliothek des Klosters St. Sabas in Bethlehem, später | |
| gelangte es dann nach Konstantinopel. Hier untersucht der Bibelforscher | |
| Konstantin von Tischendorf die Schrift und nahm mehrere Seiten mit nach | |
| Deutschland. | |
| ## Mobile Einsatztruppe mit vier Koffern | |
| Die Aufzeichnungen, die unter den Bibelstellen hindurchschimmerten, | |
| verstand er nicht, erahnte aber ihre Bedeutung. 1907 schaffte es der | |
| dänische Philologe Ludvig Heiberg, einige sichtbare Teile zu übersetzen. | |
| Alles andere, was unter den Zeichnungen und den besonders aufwendig | |
| verzierten Seiten lag, bliebt den Historikern bis Bergmanns Durchbruch | |
| weitere hundert Jahre verborgen. | |
| Nach diesem Erfolg wurden weltweit eine Handvoll spezieller | |
| „multispektraler Durchleuchtungsgeräte“ angeschafft. Jedes mehrere 100.000 | |
| US-Dollar teuer. Die meisten sind fester Bestandteil einer Sammlung, wie | |
| zum Beispiel in der Kongressbibliothek in Washington. Die Hamburger | |
| Schriftexperten besitzen eins der wenigen mobilen Geräte. Mit vier Koffern, | |
| zusammen fast 100 Kilogramm schwer, reisen sie als eine Art mobile | |
| Einsatztruppe um die Welt. Wenige Stunden nach der Ankunft ist die Technik | |
| einsatzbereit. | |
| Ihr Wissen ist gefragt – in Stockholm, Florenz und Kathmandu. Jede Reise | |
| ein kleines Abenteuer. In Nepal arbeitete das Team zwei Wochen lang in | |
| einem kleinen, fensterlosen Raum, und das bei schwül-warmen 38 Grad | |
| Außentemperatur. In Stockholm musste die teure Kameratechnik aus | |
| Platzgründen auf wackeligen Tischen stehen. | |
| ## Schriftensammlung des Humanisten Basilius Bessarion | |
| Eine ihrer letzten „Expeditionen“ führte die Jäger der verlorenen Schrift… | |
| nach Venedig. In der Bibliothek am Markusplatz arbeiteten sie an einer vom | |
| Wasser stark beschädigten, über 700 Jahre alten Ausgabe von „Über den | |
| Himmel“, Aristoteles’ Hauptwerk zum Aufbau des Kosmos. Das untersuchte | |
| Manuskript stammt ursprünglich aus Konstantinopel und war später Teil der | |
| berühmten Schriftensammlung des Humanisten Basilius Bessarion. | |
| Im Gegensatz zu anderen Palimpsesten ist hier der Originaltext gut erhalten | |
| und gründlich erforscht. „Wir interessieren uns eher für die Kommentare am | |
| Rand. Sie wurden durch den Wasserschaden unleserlich“, sagt Brockmann. | |
| Aristoteles’ Gedanken über den Aufbau des Weltalls sind äußerst komplex. | |
| Mit unzähligen Diagrammen und geometrischen Zeichnungen versuchte der | |
| griechische Universalgelehrte, die Endlichkeit des Weltalls zu belegen. Zum | |
| besseren Verständnis schrieben im Laufe der Jahrhunderte immer wieder | |
| Gelehrte eigene Interpretationen, Erklärungen und Zusatzinformationen an | |
| den Rand des Buches. | |
| Für die Forschung eine interessante Quelle. „Die Kommentare aus den | |
| unterschiedlichen Epochen zeigen uns, wie sich das Wissen weiterentwickelt | |
| hat und welche Debatten rund um den Text geführt wurden“, erklärt | |
| Brockmann. | |
| Die mühevolle Entzifferung aller mit Multispektraltechnik aufgenommenen | |
| Seiten des Palimpsests und ihre historische Einordnung ist letztendlich der | |
| zeitaufwendigste Teil der Arbeit. Während ein Teil des Hamburger Teams | |
| schon nach neuen Schätzen tief verborgen in den Bibliotheken dieser Welt | |
| sucht, verbringen Manuskriptforscher qualvoll lange Stunden mit der | |
| Auswertung. | |
| ## Suche nach Liebesliedern | |
| An den Trecento-Noten aus Florenz arbeiten Musikhistoriker bereits seit | |
| fast zwei Jahren. „Die Stücke sind keine klassische Kirchenmusik, sondern | |
| meistens Liebeslieder, die oft mehrstimmig gesungen wurden“, sagt Andreas | |
| Janke vom Institut für Historische Musikwissenschaft. Genau diesen Klang | |
| wollen die Hamburger Forscher nun wieder hörbar machen. Dafür entziffern | |
| sie so viele historische Töne und Textzeilen wie möglich und übertragen sie | |
| in das moderne Notenschema. | |
| Ein ambitioniertes Ziel: Klare Vorzeichenregeln gab es im Italien des 15. | |
| Jahrhunderts nicht. Stattdessen wurden die Noten in enger Verknüpfung | |
| zueinander aufgeschrieben. Genau das macht die Analyse noch schwieriger. | |
| Immer wieder wurden einzelne Noten so gründlich ausgelöscht, dass sie | |
| selbst mit Röntgenblick unsichtbar bleiben. Mit etwas Glück gibt es noch | |
| andere Aufzeichnungen von den Stücken, mit etwas Pech ist das | |
| florentinische Werk die einzige Überlieferung. | |
| „Manchmal gleicht meine Arbeit einem mühevollen Puzzle“, sagt Janke und | |
| zuckt die Schultern. „Ohne die Kamerasysteme wäre die Analyse aber | |
| überhaupt nicht möglich.“ | |
| 13 Jan 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Birk Grüling | |
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