# taz.de -- Nordkoreanische Flüchtlinge in Südkorea: Fremd im eigenen Land | |
> Eine junge Generation nordkoreanischer Flüchtlinge sucht ihren Platz in | |
> ihrer Wahlheimat Südkorea – und muss gegen Vorurteile kämpfen. | |
Bild: Gyoon Heos neue Heimat: Er hat bisher kaum Freunde in der südkoreanische… | |
SEOUL taz | Mit Anfang zwanzig stand Gyoon Heo vor dem Nichts, wieder | |
einmal. Tagsüber briet er Burger in einer amerikanischen Fastfoodkette, | |
nachts hielt ihn eine endlose Gedankenkette wach. Auch wenn er die | |
abgewetzte Kleidung längst abgelegt hatte, den fremdartigen Akzent, selbst | |
die Bekanntschaften zu seinen Landsleuten – die Blicke der Leute blieben an | |
ihm haften. | |
Endlich hatte er Seoul erreicht, die schillernde 20-Millionen-Metropole, | |
die er sich einst als illegaler Flüchtling in China wie eine paradiesische | |
Wohlstandsinsel ausgemalt hatte. Ausgerechnet hier sollte er nun von seiner | |
ersten schweren Depression erschüttert werden. „Ich fühlte mich, als würde | |
ich niemals gut genug sein. Die Leute hier sind verrückt nach | |
gesellschaftlichen Erfolg. Die Ellbogenmentalität war ein großer Schock für | |
mich“, sagt Gyoon. | |
Das Wunder vom Han-Fluss ging als der wohl rasanteste Wirtschaftsaufschwung | |
des 20. Jahrhunderts in die Geschichtsbücher ein. Er katapultierte Südkorea | |
innerhalb einer Generation vom bitterarmen Entwicklungsland zur | |
vierzehntgrößten Volkswirtschaft der Welt – und hinterließ dabei auch eine | |
Gesellschaft der Extreme: In keinem OECD-Land wird mehr gearbeitet, in | |
keinem denken sie materialistischer, in keinem nehmen sich mehr Menschen | |
das Leben. | |
Die Traumata der jüngeren Vergangenheit wirken noch nach in einem Land, das | |
von den japanischen Kolonialherren kulturell entwurzelt und vom Koreakrieg | |
in Schutt und Asche gelegt wurde. Noch immer hat die südkoreanische | |
Gesellschaft kein Wertegerüst als Gegengewicht gefunden, das seinen | |
absoluten Glauben in Konsum und Wirtschaftswachstum austarieren könnte. | |
## Keine Vorbilder, keine Identität | |
Die Geschichte des 28-jährigen Gyoon Heo handelt deshalb auch von der | |
Sinnsuche eines jungen Migranten. Anders als andere Jugendliche aber hatte | |
Gyoon keine Vorbilder, zu denen er aufschauen konnte, keine Identität, die | |
ihm einen Anker bot. Wirklich erfolgreiche, gesellschaftlich anerkannte | |
Nordkoreaner gibt es nicht. Und alles, wofür sein Heimatland steht, ist ein | |
grausames Terrorregime, sind hungernde Kinder und fremdgesteuerte | |
Parteikader. | |
Der Politikstudent ist einer von 27.000 Nordkoreanern, die im südlichen | |
Nachbarland eine neue Heimat gefunden haben. Um ihn zu finden, helfen keine | |
Google-Suchen oder Anrufe bei Menschenrechtsorganisationen. Ein offener | |
Blick aber genügt. Ihre weit geschnittene Kleidung entspricht oft nicht den | |
schnelllebigen Trends der südkoreanischen Jugend. | |
Ein Kaffeehaus im Univiertel von Seoul. Hier sitzt er in der hintersten | |
Ecke, eingehüllt in einen dunklen Dufflecoat, ins Gesicht fallende | |
Fransenfrisur, skeptischer Blick. „Wieso ausgerechnet ich? Ich bin doch nur | |
ein ganz gewöhnlicher Nordkoreaner“, erwidert er die erste Interviewanfrage | |
und beantwortete sie zugleich. | |
Aufgewachsen ist Gyoon Heo in Chongjin, einer Hafenstadt im Nordosten des | |
Landes. Die Mutter lehrte an der Uni, der Vater hatte einen Posten bei der | |
Partei. Eine friedliche Kindheit sei es gewesen, die Familie glücklich. | |
## „Wurde auf euch schon mal eine Pistole gerichtet?“ | |
Das Ereignis, das seine Welt in ein Vorher und Nachher teilte, geschah an | |
jenem Abend, als der Vater nicht mehr von der Arbeit zurückkehrte. Nach | |
einem quälend langen Monat voll unbeantworteter Fragen rief die Mutter ihre | |
beiden Söhne zu sich, um ihnen die wohl folgenreichste Frage ihres Lebens | |
zu stellen: „Wollt ihr auch dorthin gehen, wo Papa ist? Wenn nicht, dann | |
müsst ihr das Land verlassen – für immer.“ | |
Rund 120.000 politische Gefangene sitzen laut dem jüngsten Bericht einer | |
UN-Untersuchungskommission in nordkoreanischen Lagern ein. Dort werden sie | |
als Arbeitssklaven ausgebeutet und regelmäßig von Wärtern misshandelt. Ob | |
Gyoon Heos Vater noch immer einer von jenen ist oder längst gestorben – er | |
weiß es nicht. | |
Auch Lee Chul-hyun ist Dissident. Nun steht er auf der Bühne eines Seouler | |
Kellerlokals, hält in der zittrigen Hand das Mikrofon, vor sich ein voller | |
Saal von Austauschstudenten. Sie folgten der Einladung einer | |
Menschenrechtsorganisation, um Lees Geschichte zu hören. Er wird sie heute | |
zum ersten Mal vor Publikum erzählen. | |
Auch sein Publikum ist eine Seltenheit: In der Regel ist die südkoreanische | |
Jugend so sehr mit dem erbitterten Konkurrenzkampf um die besten Studien- | |
und Arbeitsplätze beschäftigt. Also sind es vor allem die Ausländer im | |
Land, die sich für die Situation der Nordkoreaner und eine mögliche | |
Wiedervereinigung interessieren. „Wurde auf euch schon mal eine Pistole | |
gerichtet? Auf mich schon“, setzt Lee mit brüchiger Stimme an. Das Publikum | |
folgt ihm gebannt. „Ich dachte mir, das war’s – jetzt werde ich sterben. | |
Aber hier stehe ich vor euch, noch immer am Leben.“ Die nächste halbe | |
Stunde wird Lee von diesem Wunder erzählen. | |
## Größter Wunsch: Parteimitglied werden | |
Während seiner Flucht nach China sei er zweimal gefangen genommen worden, | |
15 Tage lang nackt in einen Eisenkäfig gesperrt, blutig geschlagen und mit | |
einem glühenden Kohlenstück misshandelt. Wie um seine Glaubwürdigkeit zu | |
untermauern, zieht der 27-Jährige seinen Pullunder hoch. Die meisten im | |
Publikum halten den Anblick seiner Narben nicht stand. Viele Zuhörer senken | |
den Blick zum Boden, einige lächeln verlegen. | |
Als Lee in ein Arbeitslager verschleppt werden sollte, konnte er flüchten. | |
Mithilfe eines Schleppers und geschmierten Grenzbeamten gelangte er nach | |
China, von dort übers Mekong-Delta zur südkoreanischen Botschaft in | |
Bangkok, dessen Mitarbeiter ihn schließlich nach Seoul ausflogen. Die | |
Propaganda zu durchschauen, fiel ihm dennoch schwer. | |
Obwohl er seine Kindheit im Waisenhaus verbrachte, wo er viele seiner | |
Freunde während der Hungersnot sterben sah, blieb es sein größter Wunsch, | |
einmal Parteimitglied zu werden. Später, als junger Erwachsener in | |
Pjöngjang, opferte er jede freie Minute für seinen Traum. Erst als ihm ein | |
Parteikader offenbarte, dass ihm dieser Traum verwehrt sein würde, weil | |
sein Vater als Systemkritiker galt, brach Lee Chul-hyuns Welt zusammen. | |
„Was wäre, wenn du damals in die Partei hättest eintreten können? Würdest | |
du dann jetzt auch hier sein?“, möchte jemand aus dem Publikum wissen. Lee | |
lächelt verlegen. „Das ist ein wenig merkwürdig, so etwas hier zu sagen, | |
aber wahrscheinlich wäre ich als Parteimitglied in Nordkorea glücklich | |
geworden“. | |
## Nicht viele Arbeitgeber stellen Nordkoreaner ein | |
Nun studiert er an einer Universität in Seoul, um einmal Polizist zu werden | |
– derselbe Beruf, den einst sein Vater ausübte. Aus Solidarität reservieren | |
viele Universitäten Studienplätze für nordkoreanische Flüchtlinge wie ihn. | |
Auch damit ist er von vornherein anders als seine Kommilitonen. | |
„Mein Leben lang war ich ein Opfer. Heute möchte ich das Böse bekämpfen“, | |
sagt Lee. Vielleicht wird er so zu einem Role Model für andere Nordkoreaner | |
– etwas, was es derzeit noch viel zu selten gibt. | |
Noch immer haben die Flüchtlinge in ihrer Wahlheimat mit massiven | |
Vorurteilen zu kämpfen. Sie stammen aus dem blutigen Koreakrieg in den 50er | |
Jahren, dessen Kampf zwischen Nord und Süd rund 4 Millionen Menschenleben | |
forderte. Sie wirken fort in der politischen Propaganda und medialen Hetze | |
– auf beiden Seiten der demilitarisierten Zone. | |
Konservative verdächtigen die Nordkoreaner, entweder als verdeckte Spione | |
für das Kim-Regime zu dienen oder ganz gewöhnliche Kriminelle zu sein, die | |
lediglich vor der Strafverfolgung ihrer Heimat geflohen sind. Für extreme | |
Linke gelten sie als Vaterlandsverräter. Nicht viele Arbeitgeber sind | |
bereit, Nordkoreaner einzustellen. Die meisten landen, oft entgegen ihrer | |
Qualifikation, in Hilfsarbeiterjobs. | |
Gyoon Heo muss sich immer wieder Sprüche anhören. Etwa wenn er den | |
Konsumwahn seiner Landsleute kritisiert. Er solle doch froh sein, dass er | |
überhaupt hier leben dürfe, sagen sie zornig. Südkoreanische Freunde hat | |
der 28-Jährige nicht. „Vielleicht habe ich mich einfach nicht hart genug | |
angestrengt“, sagt er, „aber Südkorea ist eine verschlossene Gesellschaft.… | |
Trotzig fügt er an: „Ich habe nicht das Gefühl, dass ich da wirklich | |
dazugehören muss.“ | |
20 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Fabian Kretschmer | |
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