# taz.de -- Kolumne Immer bereit: Genau andersrum als beim Vögeln | |
> Anständige Intellektuelle gingen früher spazieren. Heute landen sie im | |
> Fitnessstudio und reden über Sport-BHs. | |
Bild: Kopfarbeiter? Beinarbeiter? | |
Der Januar ist fast vorbei. Das merkt man daran, dass in der Umkleide vom | |
Fitnessstudio wieder Spinde frei sind. „Jedet Jahr dittselbe!“, sagt | |
Gisela, die nackig vor dem Spiegel steht und sich die Haare kämmt. „Im | |
Dezember is hier Totentanz, aber Silvester nehm’se sich alle vor, watt für | |
die Figur zu tun, und ick kann sehen, wo ick bleibe.“ Gisela lacht und | |
wackelt mit dem Po. Gisela ist 69 Jahre alt und jeden Abend hier. | |
Als ich im Sommer angefangen hab mit Sport, hab ich noch spöttisch gedacht: | |
Die ist ja jeden Abend hier! Aber nach zwei Wochen war mein Shampoo alle | |
und Gisela lieh mir ihrs und sagte: „Na Sie sind ja ooch jeden Abend hier!“ | |
Mittlerweile sind wir Freundinnen. Und immer die Letzten. | |
„Gisela, zieh dich an, wir sind schon wieder die Letzten!“, rief ich | |
gestern durch die Umkleide. Gisela sagte: „Ja. Ja!“, und stieg grazil in | |
den Tanga, die Strumpfhose, den grünen Rock und stülpte den roten | |
Rollkragenpullover über. | |
Wenn man Gisela laufen sieht, denkt man, sie ist so alt wie ich. Wenn man | |
mich laufen sieht, denkt man: „Wie läuft’n die?!“ Ich hab doch diese | |
Gehbehinderung. Infantile Zerebralparese. Haben voll viele, nervt bei | |
Glatteis. Mein linkes Bein ist kürzer und dünner als das rechte und kann | |
ein paar Sachen nicht. Joggen zum Beispiel. Aber Crosstrainer geht. Das | |
sind diese Hamsterräder ohne Räder, die von außen durch die Fensterscheibe | |
immer so bescheuert aussehen, wenn fünf Leute nebeneinander im Stehen | |
geradeaus rudern, ohne auch nur einen Millimeter von der Stelle zu kommen. | |
Früher hab ich meinen Bewegungsdrang durch Tanzen, Sex und Radfahren | |
befriedigen können, aber seit alle um mich rum Babys, Rücken und | |
Festanstellungen bekommen haben, wurde die Lage zunehmend desperat. Und | |
alle gingen jetzt turnen. | |
Früher galt Sport ja als Nazikacke. Anständige Intellektuelle gingen | |
spazieren. Für die schlanke Linie gab es regelmäßige Verabreichungen von | |
Schnaps, Kaffee und Zigaretten. Und feiertags eine Prise Koks oder ein | |
Gläschen Absinth. Aber Spazieren mit Gehfehler macht keinen Spaß und bei | |
Drogensachen war ich schon immer eine Lusche. Also machte ich | |
Probetraining. Und jetzt bin ich druff. | |
Ich liebe es! Dieses völlig autistische Vor-sich-hin-Wurschteln. Es ist | |
nämlich gar nicht sexy im Fitnessstudio. Höchstens autoerotisch. Es | |
herrscht so eine Art Bibliotheksatmosphäre. Die totale Kontemplation. | |
Gesellig wird es erst wieder, wenn man sich nackig auszieht. Dusche, Sauna, | |
Umkleide. Da reden die Leute wieder miteinander. Also genau andersrum als | |
beim Vögeln normalerweise. Und man wird nicht getriezt. | |
## Ich bin einfach langsam | |
Das hab ich beim Schulsport immer gehasst. Ich bin einfach langsam. Und | |
wenn man mich hetzt, werd ich noch langsamer. Und zusätzlich zickig. | |
Deswegen hatte ich immer eine 4 in Sport. In der Körperbehindertenschule. | |
Und auch da war ich immer die Letzte in der Umkleide. | |
Gisela kommt grad aus der Sauna, als ich in meinem Sport-BH feststecke. | |
Passiert mir ständig. Die Scheißteile sind so eng; wenn sie dann noch nass | |
sind und man selber erschöpft, kann man sich eigentlich nur noch | |
freischneiden lassen. Ich könnte den BH auch einfach weglassen. Aber ich | |
bin so glücklich, dass ich endlich dazugehören darf, da will ich auch so | |
tun, als ob ich einen Busen hätte, den man festhalten müsste. | |
„Na, meine Kleene! Brauchste Hilfe?“, sagt Gisela und zieht mir den nassen | |
Lappen über den Kopf. Sie war früher Krankenschwester, sie weiß, wie das | |
geht. „Danke!“, sage ich. – „Welchet war denn jetzt mein Schrank?“, s… | |
Gisela und probiert alle durch. Sie freut sich schon auf den Frühling, sagt | |
sie. Dann haben die Leute nämlich vergessen, dass jeden Monat Geld vom | |
Konto abgebucht wird. Und wir sind wieder unter uns. Bis nächstes Jahr. | |
25 Jan 2015 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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