# taz.de -- Kolumne Immer Bereit: Glotz nicht so! | |
> Es ist nicht meine Aufgabe, jedermanns Neugier zu befriedigen. Ich bin | |
> kein Anschauungsmaterial. Ich bin Lea Streisand, und ich habe einen | |
> Gehfehler. | |
Bild: Füße sind zum Laufen da, oder zum Baumeln, oder für sonst was. | |
Einmal habe ich einen Shitstorm ausgelöst. Es war Sommer und warm draußen | |
und ich schrieb in mein Facebook: „Dem nächsten Kind, das mich völlig | |
Fremde auf offener Straße anquatscht: ‚Ey, warum läufst’n du so komisch?�… | |
werde ich antworten: ‚Ja, weißt du, es ist schon viele Jahre her, ich war | |
genauso alt wie du, da hab ich eine Frau, die auch so lief, dasselbe | |
gefragt und ZACK! war es passiert.“ | |
Was dann geschah, war interessant. Ich dachte, ich hätte einen guten Witz | |
gemacht, der mir viele Daumen bei Facebook einbringen würde. Pustekuchen! | |
Geschimpft wurde: Das kannst du doch nicht machen! Die Neugier eines Kindes | |
sollte nicht bestraft werden! Du hast hier die Möglichkeit, wertvolle | |
Aufklärungsarbeit zu leisten, du solltest sie nutzen, statt mit solchem | |
Verhalten Vorurteile zu schüren. Es sind Kinder, reg dich nicht so auf! | |
Ich war ehrlich erschüttert. Die einzigen, die auf „Gefällt mir“ klickten, | |
waren Leute, die selbst eine Behinderung haben. Oder echte Freunde. | |
## Das Kind steht da und starrt | |
Jetzt ist wieder Sommer und ich muss oft daran denken. Ich meine, stellen | |
Sie sich mal vor, es ist Nachmittag. Sie sind auf dem Weg nach Hause. Es | |
ist warm. Sie tragen kurze Hosen oder ein kurzes Kleid. Luft weht um die | |
Beine. Als Sie am Gemüseladen vorbei kommen, beschließen Sie noch ein paar | |
Äpfel einzukaufen. Sie wollen mit dem Obst im Arm in den Laden, da | |
versperrt ihnen ein Kind den Weg, ungefähr zehn Jahre alt. Das Kind steht | |
da und starrt auf Ihre Beine. Unverhohlen. Es kommt überhaupt nicht auf die | |
Idee, Ihnen ins Gesicht zu sehen, was eine Kommunikation zwischen Ihnen und | |
dem Kind möglich machen würde. Für dieses Kind haben Sie kein Gesicht. Sie | |
sind einfach nur ein Bein, das ein bisschen dünner ist als das andere und | |
dessen Fuß in einem Schuh steckt, der einen etwas höheren Absatz hat. Na, | |
wie fühlt sich das an? | |
Ich fühle mich furchtbar in solchen Momenten. Es verletzt mich. Weil es | |
mich entindividualisiert, weil mich dieses Anstarren reduziert auf meine | |
Andersartigkeit, auf den Fehler, auf das „nicht Normale“. | |
Ich habe 30 Jahre gebraucht, um mich zu trauen, meine Beine zu zeigen. Ich | |
möchte nicht auf diese Beine reduziert werden, auch nicht von Kindern. Das | |
beste Mittel, um auf Starrattacken zu reagieren, ist, zurückzustarren. Das | |
habe ich in der Grundschule gelernt. Wenn wir mit der | |
Körperbehindertenschule Wandertag hatten, fielen den Leuten fast die Augen | |
aus dem Kopf. Irgendwann entwickelten wir ein Kommando, auf das wir alle | |
zurück starrten. Das funktionierte. Die Starrer fühlten sich ertappt und | |
wandten den Blick ab. Wir wurden in ihren Augen wieder zu Individuen. | |
Meine Behinderung ist ein Teil von mir. Ich bin nicht stolz auf sie. Ich | |
definiere mich nicht über sie. Und ich möchte nicht über sie definiert | |
werden. Zu dem starrenden Kind habe ich das gesagt, was ich zu allen | |
Starrern sage: „Hey, hör auf zu glotzen! Is unhöflich!“ | |
Damit wir uns richtig verstehen: Ich bin es gewohnt, dass Leute mich | |
fragen, warum ich so laufe wie ich laufe. Wenn Leute mich kennen lernen, | |
kommt die Frage so sicher wie das „Heißt du wirklich so?“ und ich antworte | |
geduldig: „Ja, ich heiße wirklich so. Ja, wir sind mit Barbra verwandt, | |
aber sie weiß nichts davon. Meine Behinderung heißt Infantile | |
Zerebralparese. Passiert durch Sauerstoffmangel bei der Geburt. Hat nichts | |
mit Genetik zu tun.“ | |
Der springende Punkt ist, dass die Leute mich kennen. Ich habe jahrelang | |
Theaterkurse an einer Grundschule gegeben. Die Frage kam in jeder Klasse. | |
Natürlich habe ich sie geduldig beantwortet. Aber es ist nicht meine | |
Aufgabe, jedermanns Neugier zu befriedigen. Ich bin kein | |
Anschauungsmaterial. Ich bin Lea Streisand, 36, Schriftstellerin, und ich | |
habe einen Gehfehler. | |
25 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Lea Streisand | |
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