# taz.de -- Liebeserklärung an Linden: Warum ich gerne in Hannover lebe | |
> Nach 14 Jahren zog unser Autor von Braunschweig in die niedersächsische | |
> Landeshauptstadt. Zu seiner Überraschung mag er die Stadt. | |
Bild: Unser Autor liebt Linden: auch wenn das marode Ihme-Zentrum so nah ist. | |
HANNOVER taz | Bevor ich vor fast sechs Jahren nach Hannover zog, wohnte | |
ich 14 Jahre in Braunschweig. Allerdings habe ich keine Lust, den | |
Kronzeugen und Verräter im albernen Niedersachsen-Lokalderby zu geben. Es | |
reicht ja, wenn sich die Hannover-96- und Eintracht-Braunschweig-Fans seit | |
Jahrzehnten regelmäßig auf die Fresse hauen. | |
Bei sowas muss man weder praktisch noch theoretisch mitmachen. Bloß weil | |
ich aus bestimmten Gründen nicht mehr in Braunschweig leben will, muss ich | |
Hannover ja nicht toll finden. So dachte ich damals. | |
Überraschenderweise fand ich Hannover dann aber doch ziemlich schnell, nun | |
ja, vielleicht nicht „toll“, aber doch ziemlich angenehm. Trotz | |
Mittelmäßigkeitsgeschrei, trotz aller Unkenrufe im Tenor von „Hannover ist | |
nicht der Arsch der Welt, aber man kann ihn von dort aus gut sehen.“ Das | |
liegt nicht zuletzt an dem Stadtteil, in dem ich wohne. Doch dazu weiter | |
unten mehr. | |
Zunächst einmal gefiel es mir, dass Hannover sich mir kurz nach meinem | |
Umzug als Skandal- und Korruptionsmetropole präsentierte: Die | |
Landesbischöfin wird Bundesevangelin, fährt hackedicht durch die Stadt und | |
tritt zurück, der Ministerpräsident wird zum Bundespräsidenten, lässt sich | |
Bobbycars schenken und muss zurück nach Großburgwedel, der niedersächsische | |
FDP-Vorsitzende stürzt erst Westerwelle und dann die Partei in den Abgrund, | |
der ehemalige AWD-Chef und Veronica-Ferres-Gespiele Carsten Maschmeyer | |
rasiert sich seinen Schnäuzer ab und keiner bemerkt es, weil er immer noch | |
so aussieht als hätte er einen – und der hannoversche Hells-Angels-Chef | |
trifft sich mit dem Bundes-Bandido in der Kanzlei eines ehemaligen | |
Gerd-Schröder-Kompagnons und schließt einen „Friedensvertrag“, um nur | |
einige Beispiele zu nennen. | |
Wow, ich war beeindruckt. Und fasziniert, dass ausgerechnet die Stadt, die | |
ständig der Langeweile und Ereignislosigkeit geziehen wird, permanent in | |
den überregionalen Nachrichten auftauchte. Nicht unbedingt mit positiven | |
Meldungen, aber hey: Hauptsache, der Name ist richtig geschrieben. | |
Doch davon abgesehen ist Hannover vor allem natürlich eine unaufgeregte | |
Halbmillionenstadt, wenn man die Region dazu nimmt, sogar fast eine | |
Millionenstadt – mit allen Vor- und Nachteilen. | |
Ich will gar nicht in den Stadtführerduktus verfallen und von einem | |
erstaunlich frischen, innovativem Staatsschauspiel reden, vom zwar schamlos | |
überteuerten, aber eindeutig tollstem Zoo Deutschlands, vom riesigen | |
Stadtwald Eilenriede, Museen, Clubs etc. pp. | |
Das alles hat Hannover, man freut sich, man benutzt es. In manchen dieser | |
Dinge ist Hannover besser, in manchen schlechter als die vergleichbaren | |
Städte Frankfurt, Stuttgart, Dortmund, Bremen … Was aber Hannover wirklich | |
besonders macht und wieso ich dort im Moment nicht weg wollte, ist Linden, | |
mein charmanter, kleiner, bunter Schmuddelstadtteil. | |
Zunächst dachte ich: Nee, nee, ich lass mich doch nicht verarschen. Linden | |
versucht in seiner Mischung aus Multikulti, Alternativ-Studententum, | |
Hartz-IV-Prekariat und Künstler-Bohème doch nur hilflos, Kreuzberg zu | |
spielen oder die Schanze nachzuäffen. Aber ich täuschte mich. Das war kein | |
Posertum, kein Fake. Das war echt und eigen. | |
Es gibt kaum etwas Entspannenderes, als dem pittoresken Treiben auf der | |
Limmerstraße, der Lebensader Lindens, zuzusehen. Man sitzt wahlweise auf | |
einer Bank, einem Treppchen, in einem vermeintlich oder tatsächlich hippen | |
Café oder in der eher prekären „Backfactory“, sieht das Lindener Panoptik… | |
an sich vorüberziehen und denkt zufrieden. | |
Wer hätte gedacht, dass Niedersachsen so vielfältig sein kann. Man | |
bewundert großflächige, freskenartige Tätowierungen, gewagte | |
Piercing-Experimente, erwachsene Männer in Tretautos mit Hunden auf dem | |
Beifahrersitz, blumengeschmückte Fahrräder, Jesus-Lookalikes, | |
seidenglänzende Jogginganzugskollektionen, gigantische | |
Wahlrossschnauzbärte, Afro-Mikrofonfrisuren und kuriose Kopfbedeckungen | |
zwischen Religiosität und Exzentrik. | |
Man kann auch diversen Selbstgesprächen in teils nichtexistenten Sprachen | |
lauschen oder die Auswirkungen von THC und anderer Substanzen auf das | |
Gastronomie-Servicepersonal bestaunen. | |
Wobei zwischen den ganzen Künstlern, Irren, Exzentrikern, | |
Multikulturalisten und verstrahlten dreadlockigen veganen Studenten und | |
innen ja erstaunlich viele „Normalos“ jedes Aggregatzustands und Milieus | |
leben, die aber in Linden offensichtlich auch gut klarkommen. | |
Aber vielleicht ist der Lindener Normalo auch gar nicht normal | |
beziehungsweise wird sich durch das kuriose Umfeld seiner eigenen | |
Besonderheit bewusst. Und fügt sich so wunderbar ins Geschehen ein. Ganz im | |
Sinne Rio Reisers: „Ich bin anders, weil ich wie alle bin und weil alle | |
anders sind.“ | |
Das „Besondere“ und „Andere“ an Linden und den Lindenern ist aber nicht, | |
dass sich hier alle lieb haben, kein Vielvölker-Eiapopeia, kein | |
gruppenübergreifendes Händchenhalten, sondern dass die Menschen, die hier | |
wohnen, offensichtlich absichtlich hier wohnen. Die wollen hier sein. | |
Freiwillig. Und deswegen lassen sie sich in der Regel auch gegenseitig in | |
Ruhe, was eine große Qualität darstellt. | |
So viel Urbanität und großstädtische Gelassenheit hätte ich dem übel | |
beleumundeten Hannover vorher nicht zugetraut. So kann man sich täuschen. | |
Aber feststeht: Eine Stadt, in der sowas wie Linden möglich ist, kann nicht | |
ganz böse sein. | |
1 Mar 2015 | |
## AUTOREN | |
Hartmut El Kurdi | |
## TAGS | |
Braunschweig | |
Hannover | |
Liebeserklärung | |
Kolumne Provinzhauptstadt | |
Flüchtlinge | |
Gerhard Schröder | |
Wendland | |
Christentum | |
Provinz | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Eine Bewerbungsrede: Ach guck, Hannover | |
Die Kolumnistin ist zurück in der Stadt, in der sie schon mal fast | |
glücklich war. Und die ist sowieso viel besser als alle denken. | |
Unternehmer Carsten Maschmeyer: Doch nicht ganz schlecht | |
Viele Kleinanleger sind mit Produkten von Maschmeyers ehemaligem | |
Finanzmauscheldienst AWD arm geworden. Jetzt hilft er Flüchtlingen. | |
Strippenzieher im Vorruhestand: Der Pate geht von Bord | |
Götz von Fromberg kannte Oberschicht und Rotlichtmilieu. Jetzt hat der | |
Vertraute von Ex-Bundeskanzler Schröder angekündigt, sich zurückzuziehen. | |
Die Wahrheit: Der Time-Tunnel von Meuchefitz | |
Wer über Pfingsten das erste Mal ins Wendland fährt, kehrt zurück mit | |
verstörenden Erkenntnissen über das Miteinander der Generationen. | |
Die Wahrheit: Bombardiert Flüchtlingsboote! | |
Warum halbe Sachen machen? Als Reaktion auf die Toten im Mittelmeer sollte | |
man weiterdenken als die deutsche Journalisten-Elite. | |
Historikerin Vanessa Erstmann über Hannovers Image: "Hannover war cooler als N… | |
Hannover gilt seit dem 19. Jahrhundert als mittelmäßig, langweilig und | |
provinziell. Die Hannoveraner selbst sind daran nicht ganz unschuldig. |