# taz.de -- Schwul und Exil-Tamile: Ich will endlich frei sein | |
> Raham steht auf Männer. Für seine hinduistische Familie, mit der er in | |
> Deutschland lebt, ist das ein Skandal. Das Protokoll einer Entfremdung. | |
Bild: „Das Thema Homosexualität existiert bei uns im Haus einfach nicht – … | |
Ich komme in mein Zimmer unter dem Dach und merke sofort – Papa war wieder | |
hier. Über meinem Bett liegt diese dunstige, würzig riechende Rauchwolke, | |
die nur er hinterlässt. Mein Zimmer ist schlicht eingerichtet, ich bin | |
nicht so oft hier. Die Wände sind weiß, davor stehen Kleiderschrank, | |
Kommode, Schreibtisch zweckmäßig nebeneinander. Mein Kissen, meine Decke | |
sind unberührt, aber der unverwechselbare Geruch von Räucherwerk verrät | |
meinen Vater und seinen heimlichen Besuch. Seit gut einem Jahr geht das | |
jetzt schon so – seit dem Sommer, als ich von zu Hause weglief. | |
Es war der Sommer, in dem ich meine erste große Liebe traf. Tino, zwei | |
Jahre jünger als ich, halb Brasilianer, aufgewachsen in Stuttgart. Wir | |
hatten uns über die Plattform „Du bist nicht allein“ ([1][dbna.de]) | |
kennengelernt und lange im Chat geschrieben, bevor wir uns das erste Mal | |
gegenüberstanden – ganz real, ohne die Trennung zweier Bildschirme zwischen | |
uns. | |
Wir trafen uns und waren in den Clubs meiner Stadt unterwegs, an diesem | |
heißen Wochenende im Juli, bis in den Morgen hinein. Ich hatte Fotos | |
gemacht – von ihm, von uns beiden eng umschlungen und von dem Partyvolk in | |
den Clubs. Am nächsten Tag vergaß ich, die Bilder der durchgemachten Nacht | |
auf der Kamera zu löschen. Diese Bilder waren der Grund für den Bruch mit | |
meinen Eltern, der Grund für die Schläge und die harten Worte, die mich | |
verletzten. | |
Nachmittags kam ich nach Hause und bemerkte sofort, dass etwas nicht | |
stimmte. Meine Mutter sagte nichts, mein Vater ging mir aus dem Weg. | |
Plötzlich war ich allein im Wohnzimmer – mein kleiner Bruder war zu seiner | |
Schwimmstunde gefahren, meine Schwester hatte das Haus verlassen. Nur Papa | |
war noch da. Er beschimpfte mich und fiel mit Schlägen über mich her. Als | |
Mama in den Raum kam, schlug sie auch auf mich ein – mit den bloßen Händen. | |
Papa schrie auf Tamilisch. Er schreit nur auf Tamilisch, wenn er wütend | |
ist. Mama sagte, ich sei eine Familienschande. „Du bist kein Junge, krank | |
bist du“, schrie sie. Und immer wieder hörte ich diese eine Frage: „Warum | |
tust du mir das an? Warum?“ Der körperliche Schmerz war geringer als die | |
Schmerzen, die ihre Worte bereiteten. Und das Schlimmste war, dass ich mich | |
nicht rechtfertigen konnte, weil es aus der Sicht meiner Eltern nichts zu | |
rechtfertigen gab. Nur noch anflehen konnte ich sie, aufzuhören. | |
## Heilige Familienehre | |
Die Familienehre – die ist im hinduistischen Glauben heilig. Recht, Pflicht | |
und Ordnung sind die Werte, denen sich jedes Lebewesen unterzuordnen hat. | |
Meine Eltern kamen als junges Paar nach Deutschland, bauten sich hier ein | |
neues Leben auf. Innerhalb der tamilischen Diaspora den Status einer | |
rechtschaffenen Familie zu haben ist ihnen unheimlich wichtig. Man kann | |
auch ganz schnell als Außenseiter dastehen. Unser Ansehen würde sofort | |
schwinden, fürchten sie, wüsste man Bescheid – davon, dass ich, Raham, | |
ältester Sohn der Familie, einen Jungen liebe. | |
Als die Schläge vorbei waren, sagte Papa zu mir: „Das war nur ein böser | |
Traum, lass uns das alles vergessen.“ Aber ich wollte nur noch weg. Weg von | |
meinen Eltern, vom Haus, von meinem Zimmer unter dem Dach. Die | |
Klavierstunde am Abend nahm ich als Vorwand, um rauszukommen. Ich packte | |
eine Tasche, nur das Nötigste, und wurde in der Musikschule von einer | |
Freundin abgeholt. Kurz darauf wurde ich bewusstlos und wachte im | |
Krankenhaus erst wieder auf. Prellungen an Armen und Beinen, Schwellungen | |
und ein blaues Auge – das war der Preis für meine „falsche“ Liebe. | |
Seit Jahren hatte ich Treffen mit Männern geheim gehalten. Versuchte, der | |
Sohn zu sein, den meine Eltern sich immer gewünscht hatten – aber der bin | |
ich nicht. Ich war immer unterwegs, arbeitete viel, war in der Stadt, auf | |
Partys oder traf Freunde. Dass meine Eltern von Tino und mir erfahren | |
haben, war für sie eine Bestätigung – sie hatten wohl schon länger etwas | |
geahnt. Trotzdem flehten sie mich an, zurückzukommen. Mama drohte, sich das | |
Leben zu nehmen. Nach zwei Monaten schaffte es eine meiner Cousinen dann, | |
mich zu einem runden Tisch nach Hause zu bewegen. „Jetzt wird alles wieder | |
gut, das ist alles vorbei“, sagten meine Eltern damals in beschwichtigendem | |
Ton zu mir. Ob sie die Schläge oder meine Homosexualität meinten, sagten | |
sie nicht. | |
## Homosexualität als Krankheit | |
Für mich aber ist nichts vorbei. Im Gegenteil: Dieser Sommer hat alles | |
verändert – an meiner sexuellen Orientierung aber hat sich nichts geändert. | |
Meine Eltern hoffen, dass ich wieder gesund werde, denn für sie ist | |
Homosexualität eine Krankheit. Mit dieser Situation bin ich nicht allein. | |
Im Internet bin ich auf andere Tamilen gestoßen, auf bekannte Gesichter, | |
von denen ich niemals erwartet hätte, sie dort zu finden. Männer, die wie | |
ich ein Doppelleben führen. Würden ihre Familien davon erfahren, hätten sie | |
ein ähnliches Schicksal zu erwarten, das steht fest. | |
Meine beiden Geschwister und ich gehören der jungen Generation an, wir sind | |
zwischen der deutschen und der tamilischen Kultur aufgewachsen. Regelmäßig | |
prallen die konträren Lebenseinstellungen aufeinander – arrangierte | |
Hochzeiten und gewalttätige Erziehungsmaßnahmen sind keine Einzelfälle. | |
Mein Vater ist mittlerweile einer Baptistengemeinde beigetreten. Das ist | |
nicht ungewöhnlich für Tamilen im Exil, die neuen Halt suchen, nachdem die | |
Ehre der Familie beschädigt ist. Seitdem betet er fast nur noch. Als müsste | |
er die Familie von meinen Sünden befreien. Fällt im Fernsehen oder im Radio | |
das Wort „schwul“, schalteten meine Eltern ohne jede Bemerkung weiter. Das | |
Thema Homosexualität existiert bei uns im Haus einfach nicht – es hat noch | |
nie existiert. | |
## Mit den Eltern über alles sprechen? | |
Mit Papa spreche ich kein Wort mehr, er hat sich völlig zurückgezogen in | |
seine Religionen und Zeremonien. Wenn ich ihm im Flur begegne, weichen | |
unsere Blicke einander aus. Nur die Rauchschwaden über meinem Bett | |
verbinden uns noch miteinander. Mit meiner Mutter geht es ein bisschen | |
besser, aber auch mit ihr kann ich nicht ehrlich über meine Gefühle | |
sprechen. Ich würde gerne wissen, wie es ist, wenn man mit seinen Eltern | |
über alles sprechen kann. Aber so viel Glück habe ich nicht. | |
Am Tisch wechseln wir fast ausschließlich förmliche Worte. Seit letztem | |
Sommer trennt uns eine unsichtbare Wand, die jede ungezwungene Unterhaltung | |
verhindert. Natürlich, ich blockiere auch. Aber die unausgesprochenen | |
Worte, die Ablehnung meiner Identität und der Vertrauensbruch, der nicht | |
rückgängig zu machen ist, wiegen schwerer für mich als das Vergessen. | |
Warum Homosexualität im Hinduismus unter Strafe steht, verstehe ich nicht, | |
denn Transsexuelle werden in wichtigen feierlichen Zeremonien sogar verehrt | |
und wie Götter gefeiert. Hat das eine mit dem anderen denn nicht zu tun? | |
Bald ziehe ich weg von meiner Familie, weg von dieser Stadt, in der so | |
viele Tamilen leben, dann beginnt mein Studium. Ich will endlich frei sein. | |
18 Apr 2015 | |
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## AUTOREN | |
Elisabeth Bauer | |
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