| # taz.de -- Aus „Le Monde diplomatique“: Die digitale Landreform | |
| > Darf es .edeka, .gay oder .kosher sein? URL-Endungen stehen zum Verkauf. | |
| > Vor allem Industrieländer und Konzerne können sich die Gebühren leisten. | |
| Bild: Welche .sollsdennsein? Auf der Konferenz der Internet Society sind TDLs e… | |
| Eine Webadresse endet auf einer Länderendung wie .de oder .ch und manchmal | |
| auch auf .com. Mit dieser Gewissheit ist es seit Ende 2013 vorbei. Seitdem | |
| sind geografische Endungen wie .berlin hinzugekommen, Branchenkategorien | |
| wie .reisen. Und bald wird es auch .edeka geben sowie .gay, .kosher und | |
| .ngo. | |
| Diese Top Level Domains (TLDs), wie es in der Tech-Sprache heißt, sollen | |
| neuen Platz schaffen. Der war im eigentlich unbegrenzten World Wide Web | |
| paradoxerweise knapp geworden. Unter den knapp 16 Millionen .de-Adressen | |
| beispielsweise ist heute kaum noch ein brauchbarer Name verfügbar. | |
| Über die Endungen entscheidet eine Art globale Internetbehörde: die | |
| Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (Icann), formal eine | |
| gemeinnützige Organisation mit Sitz in Los Angeles. Die Grundstruktur des | |
| Internets wurde in den 1980er Jahren von einem US-Informatiker entworfen, | |
| ursprünglich im Rahmen eines Forschungsprojekts des Pentagon. 1998 wurde | |
| die Icann gegründet, um die Adressräume des Internets zu verwalten. | |
| Verträge mit der US-Regierung binden die Icann noch heute. | |
| Das System aus etwa 250 Länderendungen und wenigen allgemeinen Kategorien | |
| wie .com war historisch gewachsen, es gab aber keinen Grund, an der | |
| Beschränkung festzuhalten. Nach langen Diskussionen innerhalb der Icann war | |
| es irgendwann so weit: für eine Gebühr von 185 000 US-Dollar konnte sich im | |
| Jahr 2012 jeder um eine frei gewählte, neue Endung bewerben. Seit Oktober | |
| 2013 werden diese sukzessive freigeschaltet. Bis heute sind 547 der | |
| Namensräume schon verfügbar, um andere streiten sich noch verschiedene | |
| Interessenten. | |
| Man könnte sie als große, digitale Landstücke bezeichnen. Die neuen Inhaber | |
| der Internetendungen vermieten einzelne Parzellen, so dass sich dort | |
| Webshops, Firmenseiten oder Blogs ansiedeln können. Eine Adresse unter | |
| .berlin ist ab 23 Euro im Jahr zu haben, und mehr als 150 000 wurden | |
| bereits vergeben, bei .versicherung werden bis zu 220 Euro verlangt. Es | |
| geht also um die Aussicht auf möglicherweise viel Geld. | |
| ## Neokoloniale Ungleichverteilung | |
| Das Programm war global angelegt, weist in der Praxis aber eine neokolonial | |
| anmutende, regionale Ungleichverteilung auf. 1 930 Bewerbungen um etwa 1 | |
| 400 neue Internetendungen gingen im Jahr 2012 bei der Icann ein. 45 Prozent | |
| stammen aus den USA, knapp ein Drittel aus Europa, hingegen nur 1,5 Prozent | |
| aus ganz Lateinamerika und 0,8 Prozent aus ganz Afrika. „Das TLD-Programm | |
| war viel zu teuer“, meint die Kenianerin Grace Githaiga mit Blick auf die | |
| Bewerbungsgebühr in Höhe von 185 000 US-Dollar. | |
| Githaiga ist die afrikanische Repräsentantin der Non-Commercial Users | |
| Constituency, eines Icann-Gremiums, das die Interessen nichtkommerzieller | |
| Internetnutzer vertritt. Hinzu komme, dass das Programm in Afrika kaum | |
| bekannt war. Auch der Argentinier Oscar Messano, Präsident der | |
| lateinamerikanischen und karibischen Föderation für Internet und E-Commerce | |
| Ecomlac, hält die Gebühr für viel zu hoch für die Mehrzahl der | |
| lateinamerikanischen Unternehmen. Außer für große Konzerne und | |
| multinationale Unternehmen sei das nicht erschwinglich gewesen, von NGOs | |
| ganz zu schweigen. | |
| Ein Unterstützerprogramm sah eigentlich vor, dass weniger wohlhabenden | |
| Bewerbern die Gebühr erlassen werden kann. Aufgrund der hohen Hürden haben | |
| das aber nur drei überhaupt beantragt, und von denen kam nur genau eine | |
| Bewerbung durch. „Das Unterstützerprogramm ist klar gescheitert“, meint | |
| Githaiga mit Blick auf die weniger als 20 afrikanischen TLD-Bewerbungen. | |
| Obwohl noch längst nicht alle Endungen vergeben sind, lässt sich schon eine | |
| weitere Schieflage absehen: die Dominanz von Oligopolen. Das finanziell gut | |
| ausgestattete US-Start-up Donuts hat mit ursprünglich 307 Bewerbungen in | |
| verschiedenen Sprachen etwa siebenmal so viel eingereicht, wie aus ganz | |
| Afrika und Lateinamerika kamen. Bis jetzt sind Donuts bereits 212 Endungen | |
| zugesprochen. Unter anderem gehören .reisen, .reise, .schule und .gmbh zum | |
| Imperium. | |
| Auch Amazon und Google mischen mit. Der Suchgigant ist mit 101 Anträgen der | |
| drittgrößte Bewerber, und er ist der große Unbekannte in der jungen | |
| digitalen Landreform. Noch völlig offen ist die Frage, ob Google alle neuen | |
| Endungen in Zukunft gleich behandeln oder die eigenen im Algorithmus | |
| bevorzugen wird. Eine vergleichbare Diskriminierung von Wettbewerbern wird | |
| Google bei eigenen Diensten wie YouTube vorgeworfen. Der viel gescholtene | |
| Missbrauch des Suchmonopols könnte sich durch die neuen Endungen weiter | |
| zuspitzen. Zurzeit sind 45 Endungen Google schon sicher. | |
| ## Der Höchstbieter gewinnt | |
| Gibt es für eine Endung mehrere Interessenten, entscheidet eine offizielle | |
| Auktion der Icann oder im Vorfeld eine Privatauktion. In beiden Fällen | |
| gewinnt das dickste Portemonnaie. Vor Kurzem hat sich Donuts für einen | |
| hohen einstelligen Millionenbetrag .gmbh gesichert, und Google hat für | |
| .apps 25 Millionen Dollar gezahlt. Olivier Crépin-Leblond vom At-Large | |
| Advisory Committee (Alac), das zivilgesellschaftliche Initiativen bei der | |
| Icann bündelt, hatte sich für ein Gegenmodell eingesetzt: eine starke Rolle | |
| sogenannter Community-Endungen. | |
| Dabei definieren Bewerber eine „Community“. Sie holen sich | |
| Unterstützungsschreiben der jeweils relevanten Verbände oder Organisationen | |
| ein und beschränken den Zugang mehr oder weniger strikt auf Angehörige der | |
| Community. Solche Konzepte bekommen der Theorie nach immer Vorrang, und | |
| konkurrierende Bewerber scheiden aus. Es gab unter anderem ausgefeilte | |
| Community-Bewerbungen für .gay, für .music und für .gmbh. | |
| Der Community-Status muss allerdings erst formal von einem externen | |
| Dienstleister der Icann verliehen werden. Eine Firmentochter des britischen | |
| Economist-Verlags, die Economist Intelligence Unit, führt diese Prüfung | |
| durch. Und die fiel in 13 von 17 Fällen negativ aus. Crépin-Leblond glaubt, | |
| dass wie beim Unterstützerprogramm die Hürden einfach zu hoch angesetzt | |
| wurden. | |
| Scheitern die Prüfungen, müssen sich die Initiatoren Auktionen stellen, bei | |
| denen oft finanzstarke US-Firmen ohne inhaltliche Ambitionen das Rennen | |
| machen. „Die Icann hat im Bewerberhandbuch für neue TLDs die Hürden mit | |
| Absicht hoch angesetzt, um zu verhindern, dass das System auf | |
| wettbewerbsfeindliche Art ausgenutzt wird“, verteidigt Cherine Chalaby, | |
| Mitglied der Icann-Vorstands und dort Chef des TLD-Programm-Komitees, die | |
| Situation. | |
| ## Marke oder Allgemeingut? | |
| Auch eine andere Sonderklasse an Internetendungen erhitzt die Gemüter. Etwa | |
| ein Drittel der neuen Namensräume werden nicht frei registrierbar sein: | |
| Markenendungen wie .edeka oder .bmw, über die die jeweiligen Firmen frei | |
| verfügen können. Meist sind das unumstrittene Marken, teilweise aber auch | |
| Begriffe des allgemeinen Wortschatzes. So will der italienische | |
| Süßwarenkonzern Ferrero die Endung .kinder betreiben, als Marketingpräsenz | |
| für die konzerneigenen Produkte wie Kinder-Riegel. Die Icann folgt der | |
| Argumentation von Ferrero, dass es sich bei „kinder“ nicht um einen | |
| allgemeinen Begriff handle, sondern um eine gültige globale Marke. Es | |
| existiert schon ein Vertrag zur Endung, .kinder ist aber noch nicht | |
| endgültig freigeschaltet. | |
| Der deutsche Kinderschutzbund versucht, das Ferrero-Projekt auf letzter | |
| Strecke noch zu verhindern, und hat sich unter anderen an die | |
| Kinderkommission des Bundestags gewendet. Die hat das deutsche | |
| Wirtschaftsministerium und das Familienministerium aufgefordert, bei der | |
| Icann zu intervenieren. Das Wirtschaftsministerium hat vor Kurzem | |
| geantwortet, man sei der Meinung, dass nichts mehr zu machen ist. Das | |
| Vorhaben von Ferrero war lange Zeit niemandem aufgefallen, und das war | |
| Glück für den Schokokonzern. Die Icann basiert auf einem ambitionierten | |
| „Multistakeholder“-Modell, dem Darling globaler Demokratietheoretiker. | |
| Im Rahmen eines Bottom-up-Verfahrens diskutieren Vertreter von Politik, | |
| Wirtschaft und Zivilgesellschaft über verschiedene Gremien, Ausschüsse und | |
| Arbeitsgruppen die Regeln, der Icann-Vorstand greift die Ergebnisse dann | |
| auf. Das Modell sah auch verschiedene Einspruchsmöglichkeiten vor: Die | |
| Kinderschützer hätten protestieren können, wussten aber nichts vom | |
| Ferrero-Vorhaben. Und die Bundesregierung sah entweder kein Problem oder | |
| hat das Thema schlicht verschlafen. | |
| Und auch sonst läuft das Modell nicht immer reibungslos. Konzerne können | |
| gut bezahlte Vertreter entsenden, die zivilgesellschaftliche Seite hingegen | |
| ist oft auf Ehrenamtliche angewiesen. Und für die sei die zeitaufwendige | |
| politische Arbeit nicht immer zu stemmen, meint Olivier Crépin-Leblond. | |
| Insgesamt ist er aber ein Anhänger des Modells: „In Anbetracht der | |
| Komplexität der Themen, um die es bei der Icann geht, hat sich das | |
| Multistakeholder-Modell als sehr belastbar und erfolgreich erwiesen.“ | |
| Während die globale Internetverwaltung das Mammutprojekt neue | |
| Internetendungen stemmt, versucht sie gerade sich neu zu erfinden – weg vom | |
| Rockzipfel der US-Administration, an dem sie noch hängt. Soll eine neue | |
| Internetendung freigeschaltet werden, muss, historisch bedingt, eine | |
| Unterbehörde des US-Handelsministeriums ihr Okay dazu geben. | |
| ## Ohne US-Aufsicht | |
| Mit der Konstellation gab es in der Praxis kaum Probleme, dennoch könnte es | |
| bald damit vorbei sein. Im September 2015 läuft ein Vertrag zwischen der | |
| Icann und der US-Regierung aus. Der kann für zweimal zwei Jahre einseitig | |
| verlängert werden. Zum Leidwesen der Republikaner im Lande ist US-Präsident | |
| Obama aber bereit, darauf zu verzichten. Er würde die Icann in die Freiheit | |
| entlassen. | |
| Verschiedene Gremien erarbeiten gegenwärtig Modelle für eine Zukunft ohne | |
| US-Aufsicht. Die Icann soll zum einen keine Organisation im Stile von Fifa | |
| oder IOC werden, die niemandem Rechenschaft schuldig ist. Zum anderen haben | |
| die Amerikaner eine klare Bedingung gestellt. Das Multistakeholder-Modell | |
| soll bleiben und die US-Aufsicht nicht etwa durch ein internationales | |
| Regierungsgremium wie die UNO ersetzt werden. „Wir hoffen, dass wir in | |
| diesem Sommer einen Vorschlag haben, den wir der US-Regierung überreichen | |
| können“, sagt Cherine Chalaby von der Icann. | |
| Alle wissen: Sollte das Projekt bis zur nächsten US-Präsidentschaftswahl | |
| Ende 2016 nicht abgeschlossen sein, könnte sich das historische Zeitfenster | |
| schließen. Geht es nach dem Willen aller Beteiligten, wird die nächste | |
| Bewerbungsrunde für neue Internetendungen unter dem Dach einer autonomen | |
| Icann stattfinden. Die Kenianerin Grace Githaiga wünscht sich, dass es dann | |
| ein wirklich effektives Programm für unterrepräsentierte Weltregionen gibt, | |
| nicht nur ein theoretisches. Und der Argentinier Oscar Messano hofft mit | |
| Blick auf die schwache Beteiligung in Lateinamerika, dass die | |
| Bewerbungsgebühren deutlich sinken. | |
| Einen Termin für die nächste Runde kann Chalaby noch nicht nennen, Insider | |
| rechnen damit, dass es wohl frühestens 2018 so weit ist. Die Icann wird | |
| dann vielleicht anders aussehen. Klar ist: Auch dann wird es wieder um | |
| Vielfalt gehen, um Politik und um Geld, das auch oft die Welt im Netz | |
| regiert. Einige hoffen jedoch, dass Geld dann nicht mehr eine ganz so große | |
| Rolle spielen wird – in der nächsten Verteilungsrunde der großen digitalen | |
| Landreform. | |
| 26 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Mey | |
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